„Das Fundament unseres Hauses wird uns unter den Füßen weggezogen“ – Energieversorger im Reorganisationsprozess

Autor/innen

  • Heike Jacobsen Brandenburgische Technische Universität Cottbus-Senftenberg
  • Franziska Blazejewski Brandenburgische Technische Universität Cottbus-Senftenberg
  • Patricia Graf Brandenburgische Technische Universität Cottbus-Senftenberg

Schlagworte:

Energiewende, Energiebranche, Konvention, Organisation, Dienstleistungen

Abstract

Die Energieversorger sehen sich durch die Politik zur Energiewende vor Anforderungen gestellt, sich möglichst rasch an neuen Zielen auszurichten; neben den technologisch basierten Zielen sind dies organisatorische und unternehmenskulturelle Ziele: Es soll Energie eingespart werden, statt möglichst große Mengen davon zu verkaufen. Für die traditionellen Energieversorger ist dies eine kontraintuitive Anforderung, die Umsteuerungen auf mehreren Ebenen erforderlich macht: Es muss größeres Gewicht gelegt werden auf Dienstleistungen für die Nutzer, also Energieberatung, -Management und -Contracting, vertriebsseitige Funktionen müssen ausgebaut werden und diese Veränderungen müssen personell umgesetzt werden. Solche Veränderungen erscheinen um so dramatischer, wenn in Betracht gezogen wird, dass Energieversorger traditionell vor allem an (Versorgungs-) Sicherheit ausgerichtet waren und ihre interne Organisation ebenso wie ihre Personalstrukturen und -politik weithin gemäß den bürokratischen Regeln der öffentlichen Verwaltung und des öffentlichen Dienstes funktionieren. Entsprechend stabil sind die Beschäftigungsbeziehungen, und entsprechend hoch ist inzwischen das Durchschnittsalter in vielen der Unternehmen. Die Frage ist also, wie ein so grundlegender Wandel unter diesen Bedingungen organisatorisch und personell umgesetzt wird.

Wir gehen dieser Frage in einer explorativen Studie anhand von qualitativen Interviews in zwei deutschen Stadtwerken nach. Stadtwerk A versucht die Energiewende proaktiv zu gestalten. Das Unternehmen bemüht sich, die Liberalisierung und Energiewende für sich zu nutzen, etwa durch eine zunehmende Dienstleistungsorientierung, aber auch durch die Beteiligung an „Projektgesellschaften“, die Windkraftanlagen finanzieren. Stadtwerk B dagegen fokussiert sich auf das Kerngeschäft der Energieversorgung. Es sieht seine Zukunft nicht in einer zunehmenden Dienstleistungsorientierung.

Wie lassen sich diese unterschiedlichen Herangehensweisen erklären? Mit Bezug auf die Konventionensoziologie untersuchen wir, auf welche Rechtfertigungsordnungen in den beiden Stadtwerken zurückgegriffen wird, um den eigenen Umgang mit Energiewende und Liberalisierung zu begründen. Dabei zeigt sich, dass die Energieversorger mit widersprüchlichen Anforderungen konfrontiert sind: Die Versorgungsorientierung auf Basis technischer Effizienz und Stabilität sowie Gemeinwohlverantwortung bleibt bestehen, während eine gesteigerte Marktsteuerung die Wettbewerbsorientierung verstärkt. Hinzu kommt die Anforderung zur Umorientierung von Produktion und Versorgung auf Dienstleistungen, um Energieeffizienzziele zu realisieren und neue Geschäftsfelder  zur erschließen. Dies erfordert Veränderungsbereitschaft und Flexibilität von Beschäftigten, die  ein ausgeprägtes Beharrungsvermögen im Hinblick auf Stabilität und Relevanz interner Arbeitsmärkte haben. Unter diesen Voraussetzungen wird radikaler Branchenwandel hochvoraussetzungsvoll.

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Veröffentlicht

2015-12-23

Ausgabe

Rubrik

Sektion Wissenschafts- u. Technikforschung: Neue Technologien, soziale Praktiken und gesellschaftl. Auseinandersetzungen