Nichtintendierte Folgen der Kritik

Postkoloniale Kritik und historische Soziologie der Säkularität

Autor/innen

  • Monika Wohlrab-Sahr Universität Leipzig
  • Marian Burchardt Universität Leipzig

Schlagworte:

Säkularität, Säkularismus, Postkolonialismus

Abstract

Als wesentlicher Mechanismus der Entstehung einer Weltgesellschaft ist in der historisch orientierten soziologischen Theorie die Herausbildung globaler Kategorien (Rudolf Stichweh) beschrieben worden. Während in der westlichen Soziologie die Tendenz besteht, diesen Prozess als relativ einseitigen Prozess der Diffusion westlicher Konzepte in nicht-westliche Gesellschaften zu interpretieren, erwächst aus der postkolonialen Kritik eine andere Gefahr: Angetreten, die Universalität und Hegemonie westlicher Konzepte zu hinterfragen und deren Vorkommen kritisch auf ihre Genealogie hin zu untersuchen, schlägt dies um in die Tendenz, pauschal von der Imposition westlicher Konzepte auf nicht-westliche Gesellschaften auszugehen. Dabei wird die Verbreitung von Kategorien unmittelbar mit dem Prozess kolonialer Expansion und der gewaltsamen Durchsetzung von Nationalstaaten verknüpft. Die Herausbildung globaler Kategorien wird damit gleichbedeutend mit kolonialer Gewalt. Dies hat Folgen für die Analyse des Gegenstands wie für die Konzeption der beteiligten Akteure.

Ein Beispiel für diese Problematik ist die sozialwissenschaftliche Debatte um die Unterscheidung zwischen Religiösem und Säkularem bzw. um den „secularism“. Der Vorstoß des Anthropologen Talal Asad zählt zu den wohl folgenreichsten kritischen Ansätzen im Rahmen der Forschung zu Religion, der die seit langem bestehende Kritik an westlichen Säkularisierungs- und Modernisierungstheorien in eine grundsätzliche genealogische Kritik des religious-secular-divide überführt hat. Dieser Ansatz ist vor allem, aber nicht nur in den US-amerikanischen Sozialwissenschaften breit aufgegriffen worden und verbindet sich dort mit der Kritik an der Politik der eigenen Gesellschaft.

Der Beitrag diskutiert anhand eines Überblicks über die neuere Forschung die (in der Regel wohl nicht intendierten) Folgen dieser Rezeption postkolonialer Ansätze im Gefolge Asads. Die These ist, dass das, was als Anstoß zur Historisierung und Kontextualisierung der Verbreitung westlicher Konzepte begonnen hat, umgeschlagen ist in neue Essentialisierungen. Diese betreffen

(1) ein unterstelltes, relativ einheitliches Konzept eines westlichen „Säkularismus“;

(2) die Konzeption dieses Säkularismus als historischer Akteur (Diskurs, Apparatus);

(3) die Präsentation nichtwestlicher Gesellschaften als bloße Opfer dieser westlichen Imposition;

(4) die implizite Präsentation dieser Gesellschaften und ihrer Religionen als – im Gegenzug zu den als westlich attribuierten „divides“ und „violences“ – tendenziell holistisch, friedlich und tolerant.

Diese Ausrichtung der Forschung zeigt sich besonders deutlich dort, wo es um Gesellschaften geht, die islamisch oder hinduistisch geprägt sind. Der Beitrag argumentiert, dass die Forschung im Zuge dieser Politisierung in die Nähe zu identitären Politiken gerät. Fragen der Werturteilsfreiheit werden angesichts dieser Lage neu virulent.

Diskutiert wird schließlich die Frage, wie sich eine historisch informierte Soziologie positionieren kann, die die historisierenden und kontextualisierenden Anliegen der postkolonialen Kritik aufgreift, ohne in die beschriebenen Fallstricke zu geraten. Das heißt auch, die Frage nach der Universalisierbarkeit von Konzepten – etwa von Differenzierung – zu stellen, ohne die Genealogie von deren konkreter Ausformung aus dem Auge zu verlieren.

Der Beitrag behandelt diese Fragen vor dem Hintergrund unterschiedlicher Forschungsansätze im Rahmen der Kollegforschungsgruppe „Multiple Secularities: Beyond the West, Beyond Modernities“ an der Universität Leipzig.

Literaturhinweise

Agrama, H. A. 2012. Questioning secularism: Islam, sovereignty, and the rule of law in modern Egypt. Chicago: University of Chicago Press.

Asad, T. 1993. Genealogies of religion. Baltimore: Johns Hopkins University Press.

Beyer, P. 1994. Religion and globalization (Vol. 27). Sage.

Balagangadhara, S.N., E. Bloch und J. De Roover. o.J. Rethinking Colonialism and Colonial Consciousness: The Case of Modern India. http://www.cultuurwetenschap.be/files/publications/Rethinking_Colonialism.pdf (Zugriff am 21.02.2019).

Bhargava, R. 2010. The ‚Secular Ideal‘ before Secularism. A Preliminary Sketch. In Comparative Secularisms in a Global Age, Hrsg. Linell E. Cady, Elizabeth Shakman Hurd, 159–180. New York.

Burchardt, M., M. Wohlrab-Sahr und M. Middell, Hrsg. 2015. Multiple secularities beyond the West: Religion and modernity in the global age (Vol. 1). Berlin: Walter de Gruyter GmbH & Co KG.

Burchardt, M., M. Wohlrab-Sahr und U. Wegert 2013. ‘Multiple secularities’: Postcolonial variations and guiding ideas in India and South Africa. International Sociology 28(6):612–628.

Casanova, J. 2006. Secularization revisited: A reply to Talal Asad, In Powers of the secular modern: Talal Asad and his interlocutors, Hrsg. D. Scott und C. Hirschkind, 12–30. Standford: Standford University Press.

Comaroff, J. und J. L. Comaroff. 2008. Of revelation and revolution, volume 1: Christianity, colonialism, and consciousness in South Africa (Vol. 1). Chicago: University of Chicago Press.

De Roover, J. 2002. The Vacuity of Secularism: On the Indian Debate and Its Western Origins. Economic and Political Weekly 37(39):4047–4053.

Dreßler, M. 2013. Writing religion: the making of Turkish Alevi Islam. Oxford: Oxford University Press.

Dreßler, M., A. Salvatore und M. Wohlrab-Sahr, Hrsg. 2019. Islamicate Secularities in Past and Present. Sonderheft der Zeitschrift Historical Social Research 44(3).

Eisenstadt, S. 2000. Multiple Modernities. Daedalus 129(1): 1–29.

Inglehart, R. und W. E. Baker. 2000. Modernization, cultural change, and the persistence of traditional values. American Sociological Review 65(1):19–51.

Jackson, S. 2017. The Islamic Secular. The American Journal of Islamic Social Sciences 34(2):1–31.

Kleine, C. und M. Wohlrab-Sahr 2016. Research Programme of the HCAS ‘Multiple Secularities – Beyond the West, Beyond Modernities’. Working Paper Series der KFG „Multiple Secularities – Beyond the West, Beyond Modernities“. #1

Kleine, C. 2018. The Secular Ground Bass of Pre-modern Japan Reconsidered: Reflections upon the Buddhist Trajectories towards Secularity. Working Paper Series of the HCAS „Multiple Secularities – Beyond the West, Beyond Modernities“. # 5.

Mahmood, S. 2006. Secularism, hermeneutics, and empire: The politics of Islamic reformation. Public Culture 18(2):323–347.

Mahmood, S. 2015. Religious difference in a secular age: A minority report. Princeton: Princeton University Press.

March, A. 2015. What Can the Islamic Past Teach Us about Secular Modernity? Political Theory 43(6):838–849.

Nandy, A. 1985. An Anti-Secularist Manifesto. Seminar 314:14–24.

Norris, P. und R. Inglehart. 2011. Sacred and secular: Religion and politics worldwide. Cambridge: Cambridge University Press.

Osterhammel, J. und N. P. Petersson. 2009. Globalization: a short history. Princeton: Princeton University Press.

Riesebrodt, M. 2007. Cultus und Heilsversprechen: Eine Theorie der Religionen. München: CH Beck.

Salvatore, A. 2018. The Islamicate Adab Tradition vs. the Islamic Shari‘a, from Pre-Colonial to Colonial, Working Paper Series of the HCAS “Multiple Secularities – Beyond the West, Beyond Modernities“, #3

Stichweh, R. 2009. Das Konzept der Weltgesellschaft. Genese und Strukturbildung eines globalen Gesellschaftssystems. Working paper des Soziologischen Seminars 01/09. Soziologisches Seminar der Universität Luzern, Januar 2009. https://www.fiw.uni-bonn.de/demokratieforschung/personen/stichweh/pdfs/65_stw_das-konzept-der-weltgesellschaft.pdf (Zugriff am 21.02.2019).

Thapar, R. 2013. The Secular Mode for India. Social Scientist 41(11/12):3–10.

Van der Veer, P. 2001. Imperial encounters: Religion and modernity in India and Britain. Princeton: Princeton University Press.

Wohlrab-Sahr, M. und M. Burchardt. 2012. Multiple secularities: Toward a cultural sociology of secular modernities. Comparative Sociology 11(6):875–909.

Wohlrab-Sahr, M. 2018. Die Macht der Unterscheidung oder Gibt es nichtwestliche Grundlagen der Säkularität? Kursbuch 196:154–170.

Yavari, N. 2014. Advice for the Sultan: Prophetic Voices and Secular Politics in Medieval Islam. Oxford: OUP.

Downloads

Veröffentlicht

2019-09-10

Zitationsvorschlag

[1]
Wohlrab-Sahr, M. und Burchardt, M. 2019. Nichtintendierte Folgen der Kritik: Postkoloniale Kritik und historische Soziologie der Säkularität. Komplexe Dynamiken globaler und lokaler Entwicklungen. Verhandlungen des 39. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Göttingen 2018. 39, (Sep. 2019).

Ausgabe

Rubrik

Plenum 6 - Religiöse Bewegungen und Dynamiken der Globalisierung