Editorial

Autor/innen

  • Georg Vobruba

Abstract

»Und jedem Anfang,

liebe Kolleginnen und Kollegen,

wohnt ein Zauber inne.«[1] Das mag in der Praxis richtig sein, taugt aber nicht für die soziologische Theorie.

Was ist das Problem des Zaubers der Anfänge, und warum müssen sie entzaubert werden? Soziologische Erklärungen, bei denen das, was es zu erklären gilt, erst in einen Anfang projiziert und dann aus dem Anfang abgeleitet wird, überzeugen nicht; oder jedenfalls seit der Auflösung des traditional-vormodernen Denkens nicht mehr. Soziologisches Erklären kann nur von dem ausgehen, was sich in Anfängen empirisch feststellen lässt – und nicht als Rückschluss aus dem, was der Anfang hervorbringt. Das aber bedeutet, dass es nie einen endgültigen Erklärungsbeginn gibt. Denn man kann jede Ursache auf die sie verursachenden Ursachen befragen.

Warum-Fragen ist subversiv. »Frag nicht so dumm« zählt zu den prominentesten Erziehungsvergehen. Fragen nervt, weil es kein Ende hat. Fragen hat kein Ende, seit es keinen absoluten Anfang mehr gibt. Statt des Rekurses auf einen absoluten Anfang geht es um die forschungspraktische Entscheidung: wo ansetzen?

Aus der Beunruhigung über den infiniten Regress, der hinter dem Verweis auf Ursachen stets lauert, erklärt sich die Attraktivität der Verankerung von soziologischen Argumentationen im Nichtsozialen: Urschleim,

»Natur des Menschen«, »Semantik«. In alten Zeiten war das kein Problem (»am Anfang war das Wort«), heute schon. Es gibt ein »abschließendes Vokabular« (Rorty) nur noch im Sinne eines Stillhalteabkommens: im Moment nicht weiter zu fragen. Es ist jederzeit kündbar.

Das ist der Hintergrund für Luhmanns Bedauern, dass man aus der linearen Textform nicht raus kommt, dass also, ob man will oder nicht, auf der Zeitachse des Schreibens und Lesens Vorentscheidungen über Wirkungsrichtungen getroffen werden. Luhmann hat Kausalität aufgegeben, aber das hilft nicht, weil im Gegenstand der Soziologie, also von den Leuten selbst, mit Kausalitäten gerechnet wird – und, um realitätstüchtig zu sein, gerechnet werden muss. Dem entsprechend hat sich die Soziologie – im Sinn von Beobachtung zweiter Ordnung, auf Kausalitäten einzustellen. Es hilft nichts: Muss sich die Soziologie mit Kausalität abgeben, wird sie das Problem der Anfänge und ihrer Entzauberung nicht los.

 

Anfänge sind nicht nur in der Soziologie ein Problem. Stephen Hawking, wenn ich ihn recht verstanden habe, nähert sich der abgründigen Frage nach dem Beginn der Welt mit der Vorstellung einer Kugel. Der Vorteil der Kugelvorstellung liegt in ihrer Strukturierung der Frage nach Ursachen: Bei Kugeln muss man sich keinen Anfang vorstellen, die Frage nach dem Anfang stellt sich nicht. Darum ist es so schade, dass es keine kugelförmigen Texte gibt. Aber genau daran könnte man mit den Möglichkeiten, die elektronisches Publizieren bietet, etwas ändern.

Ich stelle mir mehrere Texte vor, die durch eine Verweiskette verbunden sind. Die Verweise werden über Links hergestellt, die immer weitere Texte aktivieren, und zwar so, dass ein Ensemble von Texten entsteht, das man sich als ein über eine Kugel gespanntes Netz vorstellen kann. Die Texte stehen so untereinander in Verbindung, dass zumindest einige auf sich selbst zurück führen. Die Qualität eines Textensembles, so wie ich es mir vorstelle, lässt sich anhand der Differenz zwischen Tautologie und Reflexivität erkennen: Schlecht ist es, wenn am Ende das rauskommt, was am Anfang (!) schon klar war; gut, wenn die Texte zu einem Ergebnis führen, das Voraussetzungen der Argumentation aufklärt. Im besten Fall kann man an jedem Punkt des Textensembles einsteigen. Wenn es überhaupt einer bildlichen Vorstellung bedarf: Das wäre ein kugelförmiger Text; die Realisierung jener Textform, die der Entzauberung der Anfänge entspricht und sie betreibt.

Eh klar, es geht nicht um die Entzauberung aller Anfänge im Erleben, sondern in soziologischen Erklärungen. Individuell mag im einen oder anderen Anfang ein Zauber spürbar sein. Der soziologischen Beobachtung und Erklärung ist dies für alle Anfänge verwehrt. Da geht posttraditionale Rationalität vor Romantik.

Ihr

Georg Vobruba

 

[1] Hermann Hesse 2011: Stufen. Ausgewählte Gedichte. Frankfurt am Main: Insel. (»Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.«)

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Veröffentlicht

2015-12-01

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