Editorial

Autor/innen

  • Georg Vobruba

Abstract

Wir alle,
liebe Kolleginnen und Kollegen,
fahren doch relativ viel mit der Bahn. Und da beginnen die Unzulänglichkeiten schon. Dass wir relativ viel Bahn fahren, ist natürlich nur eine Vermutung. Soweit ich sehe, weiß die Soziologie nichts über die Entwicklung der Eisenbahnnutzung, und die Selbstbeobachtung der Bahn reicht bestimmt auch nicht sehr weit. Hat sich die Soziologie je für die Eisenbahn, für ihr Personal, ihre Kunden und deren vielfältige Interaktionsformen, für die Stellung der Bahn in den Mobilitätskonzepten der Automobilkonzerne und der Leute interessiert? Ich kenne ein einziges, allerdings sehr gutes, Buch über »Die Geschichte der Eisenbahnreise« von Wolfgang Schivelbusch. Dabei wäre die Bahn ein faszinierendes Objekt soziologischer Forschung.
Fallstudie I:
Hauptbahnhof Frankfurt am Main, Hauptverkehrszeit. Der ICE nach Leipzig hat erst Verspätung, dann heißt es, dass er ganz ausfällt, erst ersatzlos, dann wird ein Ersatzzug angekündigt. Die Stimme aus dem Bahnsteig-Lautsprecher übertönt kaum den Lärm in der Bahnhofshalle. Der Ersatzzug kommt erst mit 5 Minuten Verspätung, dann mit 10, dann mit 25. Der Sprecher verheddert sich in Ankündigungen unterschiedlicher Zugnummern (»… ich berichtige …«), die Infos über verspätete neue Abfahrtszeiten kommen mit Verspätung. Manche Reisenden verlieren die Übersicht, fallen erst in den Modus Fatalismus und dann über die Auskunftsperson auf dem Bahnsteig her und stellen dem armen Mann Fragen, für die er völlig unzuständig ist. Unter mehrheitlichem Kopfschütteln und vereinzelten Verwünschungen finden letztlich alle in den neuen Zug.
Der Fall lehrt uns, dass unterschiedlich spezialisierte soziale Systeme einander tatsächlich erst mal als weißes Rauschen wahrnehmen. Das Zugmanagement ist auf vorschriftengemäße Abwicklung des Fahrplans und der Fahrplanabweichungen aus, die Reisenden wollen an ihr Reiseziel. Dahinter operieren sehr unterschiedliche Logiken. Der Fall lehrt aber auch, dass sich die Verständigungsprobleme reduzieren ließen, wäre für jedes System ein realistischeres Bild des anderen Systems handlungsleitend.
Das Rauschen jedenfalls war auf dem Bahnsteig deutlich zu hören.
Fallstudie II:
Starker Sturm auf der Strecke Köln – Hannover. Irgendwo war ein Baum auf die Oberleitung gefallen. Mehrere Züge fallen aus, die restlichen sind überfüllt. So ein überfüllter Zug hält in Hamm (Westf.), noch mehr Leute steigen ein. Der Zug fährt nicht weiter. Galgenhumor. Der Zugchef teilt über Lautsprecher mit, der Zug sei überlastet, man könne erst fahren, wenn einige Fahrgäste aussteigen. Mildes Lächeln des im Zug befindlichen Alltags-Rational-Choice-Theoretikers. Rasch war ein Unmöglichkeitstheorem formuliert. Da fuhr der Zug weiter. Es waren ausreichend Leute ausgestiegen. Einfach so.
Jede(r) von uns hat Fälle von Gemeinschaftsbildung im Zug erlebt, Bekanntschaften mit biographischen Spontan-Erzählungen im Speisewagen, Beziehungsgespräche via Handy inklusive in den Waggon gebrüllter Intimitäten. Na ja, das war in einem Regionalexpress.
Selbstverständlich interessiert sich die Soziologie für Mobilität. Dazu fällt vor allem die breite und fruchtbare Migrationsforschung ins Auge; dann noch Forschung zu Berufspendlern und auf Distanz lebenden Familien. Auch die Raumsoziologie hat in den letzten Jahren einen erfreulichen Aufschwung genommen. Aber ist jemandem schon aufgefallen, dass Räume mit der Bahn in einer spezifischen Weise erschlossen werden? Und dass Züge selbst Räume transportierten (man nennt sie Waggons), in denen massenhaft Interaktionen stattfinden, die es ausschließlich dort gibt, die aber – vielleicht – weit reichende Folgen haben? Es gibt Untersuchungen über Reisende, aber nichts über die Bahn als Mobilitätsmittel (Mobilitätssystem? Mobilitätsnetzwerk?).
Umfassende Mobilitätskonzepte, welche die Bahn integrieren, Entwicklungsprobleme des ländlichen Raumes, Krisenkommunikation und Crowd-Management der Bahn sind nur einige der Arbeitsfelder, die sich eine bahninteressierte Soziologie erschließen kann.
Für das Jahr 2011 nennt die Deutsche Bahn knapp 2 Milliarden Bahnreisende (sie meint vermutlich Bahnreisen). Ich hab’s schon mal gesagt: Die Soziologie macht von weit weniger wichtigen sozialen Phänomenen viel mehr Aufhebens. Warum eigentlich?
Ihr
Georg Vobruba

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Veröffentlicht

2015-10-01

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