Routine – Kontingenz – Reflexivität: Warum Praxistheorien nicht ohne ein Konzept der Subjektivierung auskommen

Autor/innen

  • Nikolaus Buschmann Carl von Ossietzky Universität Oldenburg
  • Thomas Alkemeyer Carl von Ossietzky Universität Oldenburg
  • Matthias Michaeler Carl von Ossietzky Universität Oldenburg

Schlagworte:

Praxistheorie, Subjektivierung, Selbst-Bildung, Reflexivität, Kontingenz, Lernen, Dispositionen, Befähigung, Anerkennung

Abstract

Die Engführung von Praktiken auf die routinehafte Reproduktion des Sozialen ist, so unsere Ausgangsthese, das Konstrukt einer „Theaterperspektive“ (Bourdieu) auf soziales Geschehen, mit dem der Anspruch der Praxistheorien, eine Soziologie jenseits von Strukturalismus und Handlungstheorie zu formulieren, nicht eingelöst wird. Denn „Struktur“ und „Handeln“ sind nicht gleichzeitig und in gleicher Weise zu beobachten: Strukturen können ausschließlich im Nachhinein identifiziert werden. Gegenwärtiges Geschehen gehört hingegen zu einer kontingenten, im Werden begriffenen Wirklichkeit, in der Ereignisse und Erfahrungen auftauchen, deren Möglichkeit nicht in den rekonstruierten Strukturen enthalten war und die sich deshalb auch nicht im Rekurs auf diese Muster erklären lässt. Entsprechend koexistieren in der praxistheoretischen Debatte zwei analytisch zu unterscheidende Sichtweisen: Während Akteure in der einen Perspektive auf bloße Vollzugsorgane sie „rekrutierender“ Praktiken reduziert werden, denen lediglich die Funktion zukommt, Praktiken routinehaft am Laufen zu halten, neigt die andere Perspektive dazu, ein präpraktisches Subjekt vorauszusetzen, um die Vollzugsoffenheit der Praxis überhaupt denken zu können. Zur Überwindung dieser Polarisierung ist es nötig, die Ausformung sozialer Ordnungen und ihrer „Akteure“ als einen ko-konstitutiven Verweisungszusammenhang zu begreifen.

Da es sich bei Praxiskonzeptionen um Beobachtungskonstrukte handelt, bleiben Praxisverständnis und Beobachterperspektive wechselseitig aufeinander verwiesen. Im Anschluss daran schlagen wir eine Methode systematischer Perspektivwechsel vor, um sowohl die Strukturierungen des Handelns und der „Einstellungen“ der Agierenden als auch die kontingente (interaktive) Entfaltung von Praxis durch sich darin selbst bildende „Handlungssubjekte“ in den Blick zu bringen. So sollen Konzepte praktischer Teilnahmebefähigung ausgelotet werden, um zu zeigen, dass „Akteure“ erst in ihrer Teilnahme an Praktiken zu Trägern von Fähigkeiten werden und sich zu solchen machen. Es wird deutlich, dass der Status als kompetentes Teilnehmersubjekt von Akten der Anerkennung abhängig ist, in die je spezifische normative Erwartungen eingefaltet sind. Um ihre von Spannungen und Widersprüchen gekennzeichnete Ambivalenz zwischen Aktivität und Passivität, Anpassung und Eigensinn, Routine und Reflexivität in den Blick zu bekommen, beobachten wir diese Vorgänge als Prozesse der Subjektivierung und Selbst-Bildung.

Literaturhinweise

Boltanski, L. 2010: Soziologie und Sozialkritik. Berlin: Suhrkamp.

Boltanski, L., Thévenot, L. 2007: Über die Rechtfertigung. Eine Soziologie der kritischen Urteilskraft, Hamburg: Hamburger Edition.

Boltanski, L., Thévenot, L. 2011: Die Soziologie der kritischen Kompetenzen. In R. Diaz-Bone (Hg.), Soziologie der Konventionen. Grundlagen einer pragmatischen Anthropologie. Frankfurt am Main: Campus, 43–68.

Bourdieu, P. 1979: Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Bourdieu, P. 1999: Die Regeln der Kunst. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Bröckling, U. 2013: Der Kopf der Leidenschaften. Leviathan, 41. Jg., 309–323.

Brümmer, K. 2015: Mitspielfähigkeit. Sportliches Training als formative Praxis. Bielefeld: Transcript.

Clarke, A. E. (1991): Social Worlds/Arenas Theory as Organizational Theory. In D. R. Maines (Hg.), Social Organization und Social Process. Essays in Honor of Anselm Strauss. New York: de Gruyter, 119–158.

Elias, N. 1996: Was ist Soziologie? Weinheim: Juventa.

Goffman, E. 2009: Interaktion im öffentlichen Raum. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Heidegger, M. 1979: Sein und Zeit. Tübingen: Max Niemeyer.

Hirschauer, S. 2008: Die Empiriegeladenheit von Theorien und der Erfindungsreichtum der Praxis. In S. Hirschauer, H. Kalthoff, G. Lindemann (Hg.), Theoretische Empirie. Zur Relevanz qualitativer Forschung. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 165–187.

Hörning, K. H. 2001: Experten des Alltags. Die Wiederentdeckung des praktischen Wissens. Weilerswist: Velbrück.

Jaeggi, R. 2014: Kritik der Lebensformen. Berlin: Suhrkamp.

Jullien, F. 1999: Über die Wirksamkeit. Berlin: Merve.

Lave, J., Wenger, E. 1991: Situated Learning. Legitimate Peripheral Participation. Cambridge: Cambridge University Press.

Lessenich, S. 2014: Soziologie – Krise – Kritik. Zu einer kritischen Soziologie der Kritik. Soziologie, 43. Jg., 7–24.

Massumi, B. 2010: Ontomacht. Kunst, Affekt und das Ereignis des Politischen. Berlin: Merve.

Mead, G. H. 1995: Geist, Identität und Gesellschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Nassehi, A. 2011: Gesellschaft der Gegenwarten. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Nicolini, D. 2012: Practice Theory, Work & Organization. An Introduction. Oxford: Oxford University Press.

Rancière, J. 2009: Der emanzipierte Zuschauer. Wien: Passagen.

Reckwitz, A. 2003: Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken. Eine sozialtheoretische Perspektive. Zeitschrift für Soziologie, 32. Jg., 282–301.

Rouse, K. 2007: Social Practices and Normativity. Philosophy of the Social Sciences, 37. Jg., 46–56.

Schatzki, T. R. 2002: The Site of the Social. A Philosophical Account of Social Life and Change. Pennsylvania: Pennsylvania State University Press.

Scheffer, T. 2008: Zug um Zug und Schritt für Schritt. Annäherung an eine transsequentielle Analytik. In S. Hirschauer, H. Kalthoff, G. Lindemann (Hg.), Theoretische Empirie. Zur Relevanz qualitativer Forschung. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 368–398.

Schmidt, R. 2008: Stumme Weitergabe. Zur Praxeologie sozialisatorischer Vermittlungsprozesse. Zeitschrift für Soziologie der Erziehung und Sozialisation, 28. Jg., 121–136.

Schmidt, R. 2012: Soziologie der Praktiken. Konzeptionelle Studien und empirische Analysen. Berlin: Suhrkamp.

Shove, E., Pantzar, M., Watson, M. 2012: The Dynamics of Social Practice. Everyday Life and How It Changes. London: Sage.

Stekeler-Weithofer, P. 2010: Explikation von Praxisformen. Allgemeine Zeitschrift für Philosophie, 35. Jg., 265–290.

Thévenot, L. 2011: Die Person in ihrem vielfachen Engagiertsein. In R. Diaz-Bone (Hg.), Soziologie der Konventionen. Grundlagen einer pragmatischen Anthropologie. Frankfurt am Main: Campus, 231–254.

Warde, A. 2005: Consumption and the Theory of Practice. Journal of Consumer Culture, 5. Jg., 131–154.

Downloads

Veröffentlicht

2015-12-15

Ausgabe

Rubrik

Ad-hoc: Jenseits der Routine – Praxeologische Ansätze zur Analyse sozialer Dynamiken