„Daß dies zu etwas Gutem führt, kann niemand sich vorstellen“

Die dystopischen Zukünfte der Reproduktionsmedizin und der Aufstieg der Bioethik

Autor/innen

  • Philipp Zeltner Technische Universität Chemnitz

Schlagworte:

Reproduktionsmedizin, Zukunft, Reproduktion, Bioethik, Biopolitik, Biomacht, Socio-technical Imaginaries

Abstract

Fortschritte auf dem Terrain der Gen- und Reproduktionstechnologien werden regelmäßig von öffentlichen Deutungskämpfen flankiert, in denen Zukunftsbezüge in Gestalt technologischer Utopien und Dystopien Konjunktur haben – vom Unsterblichkeitsversprechen auf der einen bis zum Untergang der Menschheit auf der anderen Seite. Prototypisch zeigten sich solche Zukunftsvisionen in den im Beitrag untersuchten Debatten um die Reproduktionstechnologie der In-vitro-Fertilisation (IVF), die in den 1980er Jahren in den Printmedien in der BRD geführt wurden. Mittels qualitativer Inhaltsanalyse wurden eine Reihe privilegierter Gegenstände identifiziert, an denen die Konstruktion dieser polarisierten Zukünfte ansetzte. Herausgearbeitet wurde zudem, mithilfe welcher Narrative, Metaphern und literarischen Referenzen die – vor allem dystopischen – Zukunftsszenarien produziert wurden. Darüber hinaus zeigt der Beitrag, welche Konsequenzen diese „gegenwärtigen Zukünfte“ hatten, wie sie also die „zukünftige Gegenwart“ geprägt haben. Aus dem Bündel rekonstruierbarer Folgen dieser Auseinandersetzungen wird vor allem eine Konsequenz herausgegriffen, die im Zusammenhang mit der weiteren Produktion und Zirkulation von Zukunftsszenarien zentral ist: Die Institutionalisierung einer professionellen Bioethik in der BRD. Als Reaktion auf die Verschränkung kultur- und kapitalismuskritischer Dystopien in den massenmedialen Debatten und auf eigenen Zukunftsszenarien zweiter und dritter Stufe fußend, etablierte sich diese Bioethik als von Politik, Medizin und Wissenschaft getragene Instanz der Entwicklung und Bewertung von Zukünften, die qua Rationalisierung dem unkontrollierten „Wuchern der Diskurse“ über die technologische Zukunft Einhalt gebieten sollte und zur Disziplinierung reproduktiver Zukünfte in den Debatten über die neuen Reproduktionstechnologien führte.

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Veröffentlicht

29.09.2023

Ausgabe

Rubrik

Sektion Medien- und Kommunikationssoziologie und Sektion Wissenschafts- und Technikforschung: Polarisierte Zukünfte? Zur Konstruktion, Kommunikation und Konstitution polarisierter und polarisierender Zukunftserwartungen