Zugutachterei

Bedingungen und Folgen korruptiver Nachsicht

Autor/innen

  • Friedhelm Neidhardt

Schlagworte:

Gutachten

Abstract

Die Analyse von Gutachterei greift zu kurz, wenn sie sich allein auf die Beziehungen zwi­schen Prüfling und Prüfer versteift; man muss eruieren, wer wie in deren Ver­hältnis zusätzlich mitspielt. Hier beginnt die Soziologie. Auswahl und Finanzierung von Gutachtern beeinflussen mehr als alles andere ihre Unabhängigkeit. Ungute Folgen las­sen sich prinzipiell durch den öffentlichen Verkauf der Prüfungs­er­geb­nisse be­zie­hungs­weise durch staatliche Finanzierung vermeiden. Befinden Prüflinge selbst so­wohl über die Wahl ihrer Gutachter als auch über deren Finanzierung, sind von vorn­herein Abhängigkeiten im Prüfprozess vorhanden. Die Wahrscheinlichkeit von Ge­fälligkeitsgutachten (»Zugutachterei«) ist bei dieser Kapitalisierung von Be­gut­ach­tun­gen geschäftsbedingt. Verstärkungen dieser Wahrscheinlichkeit ergeben sich un­ter anderem bei einer Vermengung von Begutachtung und Beratung, bei Ein­schrän­kun­gen gutachterlicher Erhebungs- und Darstellungskompetenzen, sowie bei Vor­lie­gen staatlich geschützter ›Haftungsprivilegien‹. All dies ist heute vor allem im Wirt­schaftsbereich verbreitet. Aber auch der Staat ist als Kontrolleur nicht immer ver­lässlich. Ausdruck dafür ist unter anderem eine hierzulande ideologisch gewollte Unter­finan­zie­run­gen staatlicher Kontrollen sowie deren Finanzierung.

 

The analysis of review and assessment processes does not go far enough if it focuses solely on the relationship between the controllers and those who are assessed. It is necessary to find out who else plays a role in their relationship and how. This is where sociology comes in. More than anything else, the selection and funding of the reviewers influence their independence. Unfavorable consequences can be avoided if assessors finance themselves by selling the results of their assessments or by re­cei­ving state fun­ding. If those who are assessed decide themselves both on the selection of reviewers and on their financing, then there exists a dependency between the two actors from the outset. Under this condition, the probability of favorable assess­ments is very high. The likelihood of positive assessments is further increased if assessment and consulting are mixed-up, if the assessors are restricted in the collec­tion of data and in publishing their findings, and if there exist state-pro­tec­ted liability privileges. All this is common today, especially in the business sector. However, even the state is not always reliable as a controller. This is evident in Ger­many where state in­stitutions are un­der­funded as a matter of political will and their pri­vatization is favored.

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Veröffentlicht

2024-03-06

Ausgabe

Rubrik

Forschen, Lehren, Lernen