Der Blick von außen - Das Ende der gesellschaftlichen Mitte als Aspirationsraum

Autor/innen

  • Friederike Bahl Hamburger Institut für Sozialforschung

Schlagworte:

Dienstleistung, Wandel der Arbeit, Proletarität, Dienstleistungsproletariat, Gesellschaftsbilder

Abstract

Die Gesellschaft der Mittelklassen ist bis heute ein Sehnsuchtsort von Aufstiegsaspirationen und sozialer Stabilität. Demgegenüber nimmt der Vortrag ein Milieu in den Blick, in dem sich das Streben nach Aufstieg und Entwicklung weitgehend verflüchtigt hat, das ›Dienstleistungsproletariat‹. Mit ihm geht es um die arbeitenden Armen der Gegenwart, die – in der OECD-Welt – mehrheitlich in Dienstleistungsberufen tätig sind. Der Vortrag basiert auf empirischem Material des HIS-Projektes ›Dienstleistungsproletariat‹ (Leitung: Prof. Dr. Heinz Bude). Datenbasis sind 52 qualitative Beschäftigteninterviews, 28 Beobachtungen und 3 Gruppendiskussionen in fünf Branchen und vier Regionen Deutschlands. Präsentiert werden ›Deutungen der Mitte von außen‹. Die analytische Basis bilden Deutungsmusteranalysen mit dem Schwerpunkt Gesellschaftsbilder. Gezeigt wird, dass für die hier Beschäftigten die gesellschaftliche Mitte als identitätsstiftender Ort sozialen Aufstiegs jede normative Zugkraft verloren hat. Stattdessen lässt sich unter ihnen branchenübergreifend eine marktbezogene Statusfatalität beobachten: Nicht nur verlieren Aufstiegsoptionen in der Aussicht auf Mindestlöhne und ohne Qualifizierungspfade für die Beschäftigten ihre Attraktivität. Sie träumen nicht einmal mehr davon, durch geeignete Qualifikationsmaßnahmen aufzusteigen. Zwar ist Erwerbsarbeit für sie der Ort gesellschaftlicher Teilhabe. Mit einem Einkommen am gesetzlichen Existenzminimum und im Einsatz residualer Arbeitsroutinen bleibt allerdings nicht nur das Versprechen, dass Leistung sich lohnt, unerfüllt, es wird auch Berufsstolz unwahrscheinlich und Aufstieg irrelevant. Zwar ist der Wohlfahrtsstaat Türöffner für das institutionelle Sorgesystem, in ihrer Deutung tritt er in Form von Mindestlöhnen und Lohnaufstockung aber lediglich als Gewährleister von Minimalstandards auf. Statt Aufstiegsaspiration hält sich das Dienstleistungsproletariat in charakteristischen Überlebensökonomien über Wasser, die in einem Ausstieg aus den Options- und Solidaritätszusammenhängen die einzige Möglichkeit persönlicher Entwicklung sehen. Gegenwartsdiagnostisch wird damit die Frage danach, inwieweit sich die Mitte in einem Klima von sozialen Abstiegsängsten und Rückzugsgefechten heute nach innen abschließt, erweitert um die Frage, wer überhaupt hinein will und wo sich von außen ganz eigene Abschirmungsbewegungen beobachten lassen.

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Veröffentlicht

2015-12-23

Ausgabe

Rubrik

Ad-hoc: Mobile Mittelschichten? Strategien und Muster sozialer Mobilität in Zeiten der Krise