Grenzarbeit und Selbst-Werden. Vereinbarkeit biografischer Projekte zwischen Emanzipation und Inwertsetzung

Autor/innen

Schlagworte:

Biografie, Projekt, Identität, Grenzarbeit, Praxis, Ökonomisierung

Abstract

In der spätmodernen Gesellschaft wird die Ambivalenz pluraler Lebensläufe zu einer individuellen Herausforderung. Anrufungen zur Individualität und zur Bewältigung der prinzipiellen Offenheit eigener Biografien müssen selbstverantwortlich in die Hand genommen werden. In der Praxis bedeutet dies Grenzen-Ziehen. Werden die praxeologischen Implikationen dieser Demarkation untersucht, lassen sich strukturierende sowie Handlungsmomente als aktive Vermittlungen der Vereinbarkeit deuten. Im Sinne Michel Serres ist diese Grenzarbeit als »Kampf gegen das Rauschen« zu verstehen. Ihre Leistung liegt in der Organisation der Ambivalenzen scheinbar ›sauberer‹ Trennungen. Projekte können als Sinnbild dieser Aushandlung herangezogen werden. Ein Projekt ist, neben einer spezifischen Organisationsform zur Komplexitätsbewältigung, eine Rhetorik, mit welcher die fragmentierte Biografie in ein identitätsstiftendes Narrativ gebracht werden kann. Der Mensch, in die Welt geworfen, entwirft sich. Projekte materialisieren sich in der individuellen Biografie, der eigenen Identität und in den sozialen Beziehungen. Die Form des Projekts kann als Vereinbarkeitstechnologie interpretiert werden, welche spezifische Rationalitäten, Rechtfertigungen, Methoden und Werkzeuge der Planung und Organisation an die Hand gibt. Diese betten sich in wachsende Ansprüche an Selbstökonomisierung ein und erzeugen eine Subjektivitätsform, welche in der Praxis ein eigenes Leben entwirft.

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Veröffentlicht

2017-06-13

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Ad-Hoc: Vereinbarkeitstechnologien: Die Lösung des Problems?