Die Wissenschaftselite – eine geschlossene Gesellschaft?

Autor/innen

  • Angela Graf Lehrstuhl für Wissenschaftssoziologie, TU München

Schlagworte:

Wissenschaftselite, soziale Herkunft, soziale Ungleichheit, Elite, Leistung, Exzellenz, wissenschaftliches Feld, Scientific Community

Abstract

Zahlreiche Reformmaßnahmen in der deutschen Wissenschafts- und Hochschullandschaft, allen voran die Exzellenzstrategie, sollen u.a. dazu beitragen, international sichtbare wissenschaftliche Eliten zu bilden und zu fördern. All diese Reformbemühungen werden unter dem Leitbild von Leistung und Exzellenz verhandelt. Wissenschaftliche Leistung, so wird suggeriert, stellt das einzig relevante Kriterium für Erfolg und damit für eine Positionierung an der Spitze der Wissenschaft dar. Während also offenbar gerade in der Wissenschaft von Leistungseliten im eigentlichen Wortsinne ausgegangen wird, ist es gleichwohl ein offenes Geheimnis, dass auch in wissenschaftliche Karrieren nicht-meritokratische Aspekte wirksam sind, wie an der immer noch starken Unterrepräsentanz von Frauen deutlich wird. Demgegenüber wird die soziale Herkunft als möglicher Einflussfaktor auf den Zugang zu wissenschaftlichen Spitzenpositionen weitgehend ausgeblendet. Inwiefern handelt es sich bei der Wissenschaftselite um eine geschlossene Gesellschaft? Anhand biographischer Daten wird ein genauerer Blick auf das Sozialprofil der deutschen Wissenschaftselite zwischen 1945 und 2013 geworfen. Die Wissenschaftselite wird dabei in zwei Fraktionen untergliedert: Auf der einen Seite findet sich die Prestigeelite mit den höchstreputierten wissenschaftlichen Koryphäen. Auf der anderen stehen die Inhaber der höchsten Ämter innerhalb der Wissenschaft – die Positionselite. Die Befunde zeigen, dass die soziale Herkunft einen entscheidenden Faktor für den Aufstieg in die deutsche Wissenschaftselite darstellt. Der weit überwiegende Anteil der Elitemitglieder stammt aus hochprivilegierten Familienverhältnissen, wobei für den Zugang zur Positionselite eine hohe sozio-ökonomische Herkunft bedeutsam, bei der Prestigeelite hingegen v.a. ein akademisches Elternhaus vorteilhaft scheint. Im Zeitverlauf lässt sich für beide Fraktionen eine soziale Öffnung feststellen, wobei sich jedoch tendenziell eine erneute soziale Schließung auf Seiten der Positionselite abzeichnet. Die Befunde stellen nicht nur das propagierte meritokratische Prinzip der Wissenschaft in Frage, sondern gewinnen angesichts der aktuellen Strukturreformen an Brisanz und lassen auch starke Zweifel aufkommen, dass die weitgehend sozial geschlossene Wissenschaftselite sich zukünftig zu einer prinzipiell offenen Gesellschaft entwickelt.

Literaturhinweise

Beaufaÿs, S. 2003: Wie werden Wissenschaftler gemacht? Beobachtungen zur wechselseitigen Konstitution von Geschlecht und Wissenschaft. Bielefeld: Transcript.
Beaufaÿs, S. 2005: Aus Leistung folgt Elite? Nachwuchsförderung und Exzellenz-Konzept. gen-der…politik…online, 1–6.
Beaufaÿs, S., Krais, B. 2005: Doing Science – Doing Gender. Die Produktion von WissenschaftlerInnen und die Reproduktion von Machtverhältnissen im wissenschaftlichen Feld. Feministische Studien, Heft 1, 82–99.
Bourdieu, P. 1975: The Specificity of the Scientific Field and the Social Conditions of the Progress of Reason. Social Science Information, Jg. 14, Heft 6, 19–47.
Bourdieu, P. 1991: The Peculiar History of Scientific Reason. Sociological Forum, Jg. 6, Heft 1, 3–26.
Bourdieu, P. 1992: Homo academicus. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Bourdieu, P. 1998: Vom Gebrauch der Wissenschaft. Für eine klinische Soziologie des wissenschaftlichen Feldes. Konstanz: UVK.
Bourdieu, P. 2003: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. 30. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Bourdieu, P. 2004: Der Staatsadel. Konstanz: UVK.
Bourdieu, P., et al. 1981: Titel und Stelle. Über die Reproduktion sozialer Macht. Frankfurt am Main: Europäi-sche Verlagsanstalt.
Dreitzel, H. P. 1962: Elitebegriff und Sozialstruktur. Eine soziologische Begriffsanalyse. Stuttgart: Enke.
Enders, J., Bornmann, L. 2001: Karriere mit Doktortitel? Ausbildung, Berufsverlauf und Berufserfolg von Promovierten. Frankfurt am Main: Campus.
Engler, S. 2001: „In Einsamkeit und Freiheit?“. Zur Konstruktion der wissenschaftlichen Persönlichkeit auf dem Weg zur Professur. Konstanz: UVK.
Findeisen, I. 2011: Hürdenlauf zur Exzellenz. Karrierestufen junger Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
Gabriel, O. W., et al. (Hg.) 2004: Konjunktur der Köpfe? Eliten in der modernen Wissensgesellschaft. Düssel-dorf: Droste.
Graf, A. 2015: Die Wissenschaftselite Deutschlands. Sozialprofil und Werdegänge zwischen 1945 und 2013. Frankfurt am Main: Campus.
Hartmann, M. 2002: Der Mythos von den Leistungseliten. Spitzenkarrieren und soziale Herkunft in Wirtschaft, Politik, Justiz und Wissenschaft. Frankfurt am Main: Campus.
Hartmann, M. 2007: Eliten und Macht in Europa. Ein internationaler Vergleich. Frankfurt am Main: Campus.
Hartmann, M. 2013: Soziale Ungleichheit – kein Thema für die Eliten? Frankfurt am Main: Campus.
Hoffmann-Lange, U., et al. 1980: Konsens und Konflikt zwischen Führungsgruppen in der Bundesrepublik Deutschland. Frankfurt am Main: Peter Lang.
Isserstedt, W., et al. 1986: Das soziale Bild der Studentenschaft in der Bundesrepublik Deutschland. 11. Sozi-alerhebung des deutschen Studentenwerks. Bad Honnef: Bock.
Jaksztat, S. 2014: Bildungsherkunft und Promotion. Wie beeinflusst das elterliche Bildungsniveau den Über-gang in die Promotionsphase? Zeitschrift für Soziologie, Jg. 43, Heft 4, 286–301.
Jungbauer-Gans, M., Gross, C. 2012: Veränderte Bedeutung meritokratischer Anforderungen in wissen-schaftlichen Karrieren. Die Hochschule, Heft 2, 245–324.
Jungbauer-Gans, M., Gross, C. 2013: Determinants of Success in University Careers. Findings from the Ger-man Academic Labor Market. Zeitschrift für Soziologie, Jg. 42, Heft 1, 74–92.
Kaelble, H. 1983: Soziale Mobilität und Chancengleichheit im 19. und 20. Jahrhundert. Deutschland im inter-nationalen Vergleich. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
Kath, G. 1952: Das soziale Bild der Studentenschaft in Westdeutschland und Berlin. Berlin.
Kath, G. 1960: Das soziale Bild der Studentenschaft in Westdeutschland und Berlin. Sommersemester 1959. Bonn: Colloquium Verlag.
Kath, G. 1969: Das soziale Bild der Studentenschaft in der Bundesrepublik Deutschland. Wintersemester 1967/68. Bonn.
Kath, G. 1973: Das soziale Bild der Studenten in der Bundesrepublik Deutschland. Ergebnisse der 7. Sozial-erhebung des Deutschen Studentenwerks im Sommersemester 1973. Bonn.
Kath, G. 1977: Das soziale Bild der Studentenschaft in der Bundesrepublik Deutschland. Ergebnisse der 8. Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks im Sommersemester 1976. Frankfurt am Main: Deutsches Studentenwerk.
Krais, B. 2000a: Das soziale Feld Wissenschaft und die Geschlechterverhältnisse. Theoretische Sondierungen. In B. Krais (Hg.), Wissenschaftskultur und Geschlechterordnung. Über die verborgenen Mechanismen männlicher Dominanz in der akademischen Welt. Frankfurt am Main: Campus, 31–55.
Krais, B. 2000b: Wissenschaftskultur und Geschlechterordnung. Über die verborgenen Mechanismen männ-licher Dominanz in der akademischen Welt. Frankfurt am Main.
Lange-Vester, A., Teiwes-Kügler, C. 2013: Zwischen W 3 und Hartz IV. Arbeitssituation und Perspektiven von wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Leverkusen: Barbara Budrich.
Leemann, R. J. 2008: Geschlechterungleichheiten in wissenschaftlichen Laufbahnen. In P. A. Berger, H. Kahlert (Hg.), Institutionalisierte Ungleichheiten. Wie das Bildungswesen Chancen blockiert. 2. Aufl. Wein-heim/München: Juventa, 179–214.
Lenger, A. 2008: Die Promotion. Ein Reproduktionsmechanismus sozialer Ungleichheit. Konstanz: UVK.
Leuschner, A. 2015: Social Exclusion in Academia through Biases in Methodological Quality Evaluation. On the Situation of Women in Science and Philosophy. Studies in History and Philosophy of Science, Jg. 54, 56–63.
Lind, I. 2004: Aufstieg oder Ausstieg? Karrierewege von Wissenschaftlerinnen. Ein Forschungsüberblick. Bielefeld: Kleine.
Merton, R. K. 1985a: Der Matthäus-Effekt in der Wissenschaft. In R. K. Merton, Entwicklung und Wandel von Forschungsinteressen. Aufsätze zur Wissenschaftssoziologie. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 147–171.
Merton, R. K. 1985b: Die normative Struktur der Wissenschaft. In Robert K. Merton, Entwicklung und Wandel von Forschungsinteressen. Aufsätze zur Wissenschaftssoziologie. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 86–99.
Merton, R. K. 2010: Der Matthäus-Effekt in der Wissenschaft, II. Kumulativer Vorteil und der Symbolismus des intellektuellen Eigentums. Berliner Journal für Soziologie, Jg. 20, Heft 3, 285–308.
Mills, C. W. 1956: The Power Elite. New York: Oxford University Press.
Möller, C. 2013: Wie offen ist die Universitätsprofessur für soziale Aufsteigerinnen und Aufsteiger? Explorati-ve Analysen zur sozialen Herkunft der Professorinnen und Professoren an den nordrhein-westfälischen Universitäten. Soziale Welt, Jg. 64, Heft 4, 341–360.
Möller, C. 2015: Herkunft zählt (fast) immer. Soziale Ungleichheiten unter Universitätsprofessorinnen und professoren. Weinheim: Beltz Juventa.
Putnam, R. D. 1976: The Comparative Study of Political Elites. Englewood Cliffs: Prenctice-Hall.
Rothböck, S. et al. 1999: Die Rekrutierung der politischen, wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Eliten in der Schweiz. Schweizerische Zeitschrift für Soziologie, Jg. 25, Heft 3, 459–496.
Schmidt, H. J., Scholz-Reiter, B. 12.11.2015: Wollen wir mehr Elite wagen? Die Bildungsrepublik diskutiert über die nächste Exzellenzinitiative. Zwei Uni-Präsidenten streiten sich, ob es weitergehen soll wie bisher. ZEIT ONLINE, http://www.zeit.de/2015/44/exellenzinitiative-universitaet-pro-contra-elite-allianz-veraenderung (letzter Aufruf 03.01.2017).
Schnapp, K.-U. 1997: Soziale Zusammensetzung von Eliten und Bevölkerung. In W. P. Bürklin/H. Rebenstorf (Hg.), Eliten in Deutschland. Rekrutierung und Integration. Leverkusen: Leske+Budrich, 69–99.
Schneickert, C. 2013: Studentische Hilfskräfte und MitarbeiterInnen. Konstanz: UVK.
Statistisches Bundesamt 1960: Bevölkerung und Kultur. Hochschullehrer und sonstiges wissenschaftliches Personal an den Wissenschaftlichen Hochschulen 1960. Wiesbaden.
Zapf, W. 1965: Führungsgruppen in West- und Ostdeutschland. In W. Zapf (Hg.), Beiträge zur Analyse der deutschen Oberschicht. 2. Aufl. München: Piper, 9–29.
Zuckerman, H. et al. (Hg.) 1992: The Outer Circle. Women in the Scientific Community. New Haven: Yale Uni-versity Press.

Downloads

Veröffentlicht

2017-09-05

Ausgabe

Rubrik

Ad-Hoc: Wissenschaft – Eine geschlossene Gesellschaft?