Drafting. Zur Temporalität und Materialität einer textbasierten Praxis internationaler Verhandlungen

Autor/innen

Schlagworte:

UNESCO, Welterbe, Diplomatie, Entwerfen, Kulturpolitik, Internationale Organisationen, Praxistheorie, Medialität, Bildschirm

Abstract

Diplomatische Verhandlungen kreisen um die Verfertigung von Textentwürfen. In den Texten (Entscheidungen, Protokolle, Resolutionen etc.) manifestieren sich die Positionen der Verhandlungspartner und werden durch die Verschriftlichung für weitere Bezugnahmen anschlussfähig gemacht. Diese Texte können im Vorfeld internationaler Treffen oder Sitzungen durch Unterhändler/innen ausgehandelt werden. Es gibt jedoch auch Fälle, in denen die Diplomat/innen internationaler Delegationen in raum-zeitlicher Kopräsenz an Textentwürfen arbeiten. Diese Praxis soll in dem vorgeschlagenen Beitrag am Beispiel der internationalen Verhandlungen über das UNESCO-Welterbe beleuchtet werden.

In dem Beitrag wird einleitend kurz auf das kulturpolitische Instrument des Welterbes eingegangen und der institutionelle Rahmen der Komiteesitzungen erläutert. Im Hauptteil des Beitrags wird der gemeinsame Entwurfsprozess der internationalen Delegationen beschrieben, systematisiert und interpretiert. Auf der jährlichen Sitzung des Welterbekomitees werden u.a. neue Welterbestätten auf die Liste des Welterbes aufgenommen. Den Diplomaten liegt vor Beginn der Verhandlung der Entwurf eines Entscheidungstextes (draft decision) vor, der in dieser Form angenommen oder modifiziert werden kann. Modifizierungen können sowohl schriftlich auf Formularen eingereicht als auch in der Debatte mündlich formuliert werden. Das Sekretariat führt diese Änderungen zusammen; sie erscheinen live auf großen Screens im Verhandlungssaal. Bei abweichenden Formulierungsvorschlägen werden die jeweils dahinter stehenden Länder markiert, sodass sich auch die Mehrheitsverhältnisse innerhalb des Plenums abbilden.

In dem Beitrag wird sowohl die multidimensionale Materialität (Sprache, Text, Formular, Screen) als auch die Zeitlichkeit (Vorläufigkeit der Formulierungen, Versuche des Öffnens und Schließens) des Entwurfsprozesses reflektiert. Der Beitrag schließt mit konzeptuellen Überlegungen zu allgemeinen Charakteristika von Entwurfsprozessen. Dabei werden insbesondere die gegenläufigen Praktiken des Öffnens und Schließens sowie das Spannungsverhältnis zwischen Vorläufigkeit und Festschreibung des Textes reflektiert.

Autor/innen-Biografie

Hilmar Schäfer, Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder)

Wiss. Mitarbeiter am Lehrstuhl für Vergleichende Kultursoziologie

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Veröffentlicht

2017-08-18

Ausgabe

Rubrik

Ad-Hoc: Zur Praxis des Entwerfens. Offene Zukunft und geschlossene Gegenwart im Zeitalter des Designs