„Aufbruch in der Sorgekultur“ ─ aber wohin? Zum Einsatz von Laienpflegekräften im Kontext der deutschen Pflegekrise

Autor/innen

  • Tine Haubner Institut für Soziologie, Friedrich-Schiller-Universität Jena

Schlagworte:

Laienpflege, Pflegekrise, Ausbeutung

Abstract

Was geht in der Altenpflege vor, wenn Angehörige Sonden-Nahrung verabreichen, eine ehemalige Kindergärtnerin auf ehrenamtlicher Basis Injektionen setzt, Langzeitarbeitslose als umgeschulte „Betreuungsassistenten“ die Wundversorgung übernehmen und eine bulgarische Schneiderin als „Haushaltshilfe“ monatelang mit einer demenzkranken Pflegebedürftigen das Bett teilt?

Die Pflege wird in der Bundesrepublik seit vielen Jahren von einem Krisendiskurs beherrscht, der eine immer weiter aufklaffende Versorgungslücke im Kontext des demographischen Wandels adressiert: Während die Zahl der Pflegebedürftigen bis 2030 auf 3,4 Millionen ansteigen soll, fehlen für deren Versorgung bis zu 506.000 professionelle Pflegekräfte (vgl. Prognos 2012). Neben der Anwerbung ausländischer Fachkräfte und Bemühungen, den Beruf der Altenpflege zu reformieren, sind seit den 1990er Jahren sozial- und pflegepolitische Versuche zu beobachten, den Einsatz von Laienpflegekräften sukzessive zu stärken. So wird das „informelle Pflegepotenzial“ von Familie, Freunden oder Nachbarn im Rahmen der Pflegeversicherung mittels zweckgebundener Transferleistungen gezielt gefördert. Darüber hinaus werden kontinuierlich Anreize geschaffen, den Kreis informeller Pflegepersonen auszuweiten. Das Pflegeleistungs-Ergänzungsgesetz zielt 2002 mit der Förderung „niedrigschwelliger Betreuungsangebote“ auf die Stärkung häuslicher Demenzbetreuung durch Ehrenamtliche ab. Auf diese Weise avanciert das Ehrenamt mitunter zu einer nebenberuflichen Beschäftigung an der Schwelle zum Niedriglohnsektor, das für Rentner*innen, die von Altersarmut betroffen sind, attraktiv wird. Das Pflege-Weiterentwicklungsgesetz bietet stationären Pflegeeinrichtungen ab 2008 die Möglichkeit, „zusätzliche Betreuungskräfte“ für demenzkranke Heimbewohner einzustellen. Diese als „Jobchance Pflege“ deklarierte Anwerbestrategie zielt seit dem Pflege-Neuausrichtungsgesetz 2013 verstärkt auf geringqualifizierte Langezeitarbeitslose ab, die für einen „niedrigschwelligen“ Einsatz in der Pflege gewonnen werden sollen. Mit einer Neufassung der Beschäftigungsverordnung für Haushaltshilfen wird zudem seit 2015 das Aufgabenspektrum migrantischer Laien-Pflegekräfte um grundpflegerische Verrichtungen erweitert.

Die genannten sozialpolitischen Interventionsmaßnahmen zur Stärkung der Laienpflege weisen dabei eine spezifische Dynamik aus Ausschluss und Arbeitskraftnutzung auf: Sie adressieren vorwiegend Gruppen, die aufgrund von Ausschlussprozessen sozial verwundbar sind und deren pflegerische Arbeit kostengünstig genutzt werden kann. Damit gehen Unterschichtungsdynamiken einher, die zur Deprofessionalisierung und Informalisierung pflegerischer Dienstleistungen beitragen und dabei der noch immer verbreiteten Vorstellung folgen, wonach es sich bei Pflege um eine „Jederfrautätigkeit“ handelt, bei der es primär auf Empathie und weniger auf Qualifikation ankommt. Statt der Krise des Pflegeberufes mit einer Aufwertung pflegerischer Arbeit zu begegnen, wird so das berufliche Negativimage reproduziert und die Grauzonen des Pflegemarktes ausgedehnt. Und auch  die informellen Helfer*innen riskieren ihre Überforderung: Freiwillige „Demenzhelfer*innen“ werden mitunter Notfallsituationen ausgeliefert, denen sie hilflos gegenüber stehen und migrantische Laienpfleger*innen mit Schwer-Pflegebedürftigen allein gelassen. Der rechtswidrige Einsatz zusätzlicher Betreuungskräfte gehört daneben in Pflegeeinrichtungen zum „offenen Geheimnis“ der Branche, bei dem berufliche Quereinsteiger*innen nach einer kurzen Qualifizierungsphase, selbst behandlungspflegerische Leistungen verrichten.

Die sozialpolitische Stärkung der Laienpflege ist im Rahmen einer Promotion im Zeitraum zwischen April 2013 und April 2016 qualitativ-empirisch untersucht worden. Weil Pflege eine „typische Querschnittsmaterie“ ist, verbindet die Arbeit verschiedene soziologische Disziplinen und Untersuchungsfelder wie die Ungleichheits-, Frauen- und Geschlechterforschung sowie die Forschung zu Care-Work, Wohlfahrtsstaat und Migration. Ausgewählte Forschungsergebnisse könnten im Rahmen einer 20-minütigen Präsentation vorgestellt werden.

 

Autor/innen-Biografie

Tine Haubner, Institut für Soziologie, Friedrich-Schiller-Universität Jena

Seit April 2016 Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Arbeitsbereich "Politische Soziologie" des soziologischen Instituts der Friedrich-Schiller-Universität Jena

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Veröffentlicht

2017-09-18

Ausgabe

Rubrik

Sektion Sozialpolitik: Forum sozialpolitischer Forschung