Methodologische Prinzipien einer allgemeinen Grenzsoziologie

Autor/innen

  • Dominik Gerst Europa-Universität Viadrina Große Scharrnstr. 59 15230 Frankfurt (Oder)
  • Hannes Krämer Europa-Universität Viadrina Große Scharrnstr. 59 15230 Frankfurt (Oder)

Schlagworte:

Methodologie, Grenzforschung, Border Studies, Differenzierungstheorie, Raumsoziologie, Deutschland, Polen

Abstract

Der Beitrag fragt nach den methodologischen Implikationen einer soziologischen Grenzforschung. Eine solche Fragerichtung kann kaum auf Vorarbeiten zurückgreifen. Diesem Umstand gilt es zu begegnen. Wir bündeln in unserem Beitrag konzeptionelle Vorschläge gegenwärtiger Grenzforschung und unterbreiten einen Entwurf zur methodologischen Fundierung. Dabei werden zwei bislang unterschiedene Grenzforschungszugänge miteinander verbunden: Erkenntnisse der Erforschung territorialer Grenzen (borders) und sozio-symbolischer Grenzziehungen (boundaries) werden im Sinne einer allgemeinen soziologischen Grenztheorie zusammengeführt. Auf Grundlage intensiver Auseinandersetzung mit Grenzanalysen beider Forschungstraditionen skizzieren wir zwei methodologische Prinzipien, die eine allgemeine Grenzheuristik anleiten können. Diese werden anhand der multidimensionalen Grenzziehungen zwischen Frankfurt (Oder) und Słubice illustriert:

1) Das erste Prinzip schlägt vor, Grenzziehungen von der Grenze her zu analysieren. Damit wird nahegelegt, sich forschungspraktisch an den Ort der Grenzziehung zu begeben und Grenzverläufen zu folgen. Sichtbar wird so, wie an Grenzen Stabiles problematisch und die Grenze als solche erfahrbar wird. Dabei sind Grenzen als eigenständige Phänomene ernst zu nehmen und nicht mit ihren sekundären Ausformungen, wie bspw. Grenzregionen, in eins zu setzen. Ferner gilt es, die liminalen Eigenschaften von Grenzen/Grenzziehungen zu berücksichtigen. Als Übergangs- bzw. Transitzone erfüllen sie eine doppelte Strukturierungsleistung, indem sie immer Verbindung und Trennung ermöglichen. Im Sinne einer „grenzanalytischen Indifferenz“ fordert das Denken von der Grenze her dazu auf, sich nicht im Vorhinein für eine der beiden Leistungen zu entscheiden.

2) Das zweite methodologische Prinzip legt nahe, die Beziehung zwischen Grenzen und Ordnungen zu berücksichtigen, d.h. sie als zugleich ordnendes und geordnetes Phänomen zu begreifen. Grundsätzlich lassen sich an Grenzen zwei Ordnungen – diesseits und jenseits der Grenze – beobachten. Darüber hinaus muss die Möglichkeit der Emergenz dritter Ordnungen an Grenzen wahrgenommen werden; die Grenze ist auch der Ort, an dem neue Räume, Identitäten, Objekte entstehen. Daneben gilt es, die Grenze in ihrer eigenen Geordnetheit zu erkennen. Sensibilisiert wird so u.a. für ein Verständnis der Multidimensionalität der Grenze, d.h. ihrer Konfiguration als spatialer, temporaler und sozialer Gegenstand.

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Veröffentlicht

2017-09-18

Ausgabe

Rubrik

Sektion Methoden der qualitativen Sozialforschung: Grenzgebiete, Grenzkonflikte, Grenzgänger I