Konstruktionen zur Unterschicht und ihre Bedeutung

Autor/innen

  • Karl August Chassé em. Ernst-Abbe Hochschule Jena FB SW

Schlagworte:

Unterschicht, Ungleichheit

Abstract

Die Stigmatisierung von Armen, Langzeitarbeitslosen und sozial ausgegrenzten Gruppen gehört auch in hoch entwickelten Gesellschaften zur Praxis und zum Alltag – sowohl von Institutionen wie im lebensweltlichen Handeln (Kreckel 1992, 14).

Im aktuellen Diskurs um Unterschichten zeigen sich verstärkte Konstruktionen von Diskri­minierung, das heißt der Konstruktion der Armen als einer von der Normalbevölkerung zu unterscheidenden Gruppe mit negativen Eigenschaften. Im Zentrum der diskriminieren­den Abgrenzung stehen wie im 19. Jahrhundert Vorstellungen über Disziplinlosigkeit und fehlende Arbeitsmoral, unbeherrschtes Konsumverhalten, die Unfähigkeit, Kinder zu erziehen und sexuelle Freizügigkeit (für Details vgl. Chassé 2010). Diese vor allem in den Medien breit aufgegriffenen Konstruktionen der Unterschicht erzeugen Moralpaniken hinsichtlich der Mentalität, der Apathie, von Kriminalität und Gewalt, der Sexualität, der Kindesvernachlässigung usw., die Konflikte und Fraktionierungen zwischen gesellschaftli­chen Gruppen fördern. Diese Zuschreibungen sind essentialistisch und individualisierend, wie an Zeitschriftenartikeln, TV-Beiträgen und politischen Äußerungen gezeigt wird. Dauerfernsehen, ungesunde Ernährung, ein Mangel an Vorbildern, Vernachlässigung der Kinder kennzeichnen demnach die Einstellungen und Verhaltensweisen der Unterschicht (Armut als Kulturversagen).

Die Mitglieder der Unterschicht werden implizit entmündigt, ihnen wird die Kompetenz zu selbstverantwortlichem Handeln abgesprochen. Auf einer Metaebene interpretiert wird die bisherige sozialstaatliche Umverteilung von Ressourcen abgelöst durch eine Lebens­führungspolitik, die Einstellungen, Haltungen, Mentalitäten, Lebensstile und Lebensent­würfe beeinflussen will. Anstelle der bisherigen Ausweitung sozialer Bürgerrechte als Sozialpolitikprinzip der Nachkriegszeit geht es in der Unterschichtdebatte um Ausschluss von sozialen Rechten bzw. deren Relativierung und Umformulierung in vorbehaltliche Rechte, vor allem in Bezug auf die Arbeitsmarktintegration. Zumindest die moralische Verurtei­lung der Unterschicht ist an die Mittelschicht gerichtet, dabei geht es um die Legitimation von Leistungskürzungen, zugleich aber um die Möglichkeit der sozialmoralischen Abgrenzung nach unten, und die Angst vor dem Abstieg soll zur Anrufung der Mittel­schichten im Sinne von Selbstverantwortung für das eigene Leben genutzt werden. 

Autor/innen-Biografie

Karl August Chassé, em. Ernst-Abbe Hochschule Jena FB SW

Prof. Dr. habil.

Fachbereich Sozialwesen

Literaturhinweise

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Veröffentlicht

2017-09-20

Ausgabe

Rubrik

Ad-Hoc: Hartz IV als Stigma? – Zur Zuschreibung individuell verantworteter Unzulänglichkeit