Kann man mit Systemtheorie Gesellschaftkritik üben? Zur Unterscheidung der Begriffe »System« und »Gesellschaft« und der Begriffe »Theorie« und »Kritik«

Autor/innen

  • Maren Lehmann Zeppelin-Universität

Schlagworte:

Systemtheorie, Kritik, Luhmann

Abstract

Der Beitrag fragt, ob die Praxis der Theorie auch dann noch als Kritik der Gesellschaft verstanden werden kann, wenn die Gesellschaft als System verstanden wird. Wenn dem so ist, dann müssen die Begriffe Gesellschaft und System unterscheidbar sein, genauer: wenn sie unterschieden werden, dann werden sie kritisiert - was sonst als die Praxis der Unterscheidung bezeichnet der Ausdruck der Kritik? Als eine solche Praxis der Unterscheidung aber hat sich die soziologische Systemtheorie immer begriffen; das hat sie mit ihrem vermeintlichen Widerpart der Kritischen Theorie gemeinsam.

Es wird also nicht nur darzulegen sein, ob - und wenn ja: wie - der Systembegriff den Gesellschaftsbegriff reformuliert; die Behauptung, bei dieser Reformulierung handele es sich um eine Unterscheidung, die als solche bereits als Kritik verstanden werden könne, muss überprüft werden. Es wird auch zu klären sein, ob - und wenn ja: wie - sich Theorie und Kritik als Varianten einer allgemeinen Praxis der Unterscheidung verstehen lassen; und dieses Verständnis wird für Systemtheorie als Praxis der Gesellschaftskritik ebenso auszubuchstabieren sein wie für Gesellschaftstheorie als Praxis der Systemkritik.

In einem weiteren Schritt wird es darauf ankommen, diese These - Theorie ist, als unterscheidende Praxis, immer Kritik - an einem exemplarischen Gegenstand zu diskutieren. Aus gegebenem Anlass wird der Beitrag dies am Begriff der Krise versuchen. Lässt sich eine Systemtheorie gesellschaftlicher Krisen entwickeln (oder in für die Theorie klassischen Texten nachweisen), die als Gesellschaftskritik verstanden werden kann? Die zu verteidigende Vermutung lautet, dass es sich bei Krisen um Grenzfälle sozialer Selbstreferenz handelt (und diese Grenzfälle, nicht aber die Theorie selbst, so die mitlaufende Überlegung, sind ›amoralisch und apolitisch‹), deren theoretische Beschreibung sowohl Gesellschaftskritik im Medium des Systembegriffs als auch Systemkritik im Medium des Gesellschaftsbegriffs erfordert.

Autor/innen-Biografie

Maren Lehmann, Zeppelin-Universität

Lehrstuhl für Soziologische Theorie

Fachbereich Kulturwissenschaften

Literaturhinweise

Kant, Immanuel (1784): Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?, Akademie-Ausgabe VIII - Abhandlungen nach 1781, 33–42, zit. nach www.korpora.org/kant/aa08/

Luhmann, Niklas (1970): Soziologische Aufklärung, In N. Luhmann, Soziologische Aufklärung 1. 6. Aufl. 1991. Opladen: Westdeutscher Verlag, 66–91.

Luhmann, Niklas (1971a): Moderne Systemtheorien als Form gesamtgesellschaftlicher Analyse, In N. Luhmann, J. Habermas, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie - Was leistet die Systemforschung? 10. Aufl. 1990. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 7–24.

Luhmann, Niklas (1971b): Kritik oder Apologie - oder die Unsicherheit der Gesellschaftstheorie, In N. Luhmann, J. Habermas, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie - Was leistet die Systemforschung? 10. Aufl. 1990. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 398–405.

Luhmann, Niklas (1991): Am Ende der kritischen Soziologie. Zeitschrift für Soziologie, 20. Jg. Heft 2, 147–152.

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Veröffentlicht

2015-12-23

Ausgabe

Rubrik

Ad-hoc: Systemtheorie als kritische Theorie? Zur Normativität und Kritikfähigkeit einer amoralischen und apolitischen Th