Public Sociology? Nicht mit uns! Über die disziplinäre Professionalisierung der frühen deutschen Soziologie
Abstract
Dieser soziologiegeschichtliche Beitrag beleuchtet die Entstehung der Soziologie in Deutschland am Anfang des 20. Jahrhunderts mit Bezug zur aktuellen Debatte um public sociology. Es wird die These vertreten, dass führende Soziologen gegen öffentliche und für professionelle Soziologie argumentiert haben, um Legitimation im wissenschaftlichen Feld zu generieren. Dabei rekurrierten sie auf das Postulat der Werturteilsfreiheit und das Konzept der Einzelwissenschaft, um Grenzen der Soziologie zu markieren und um politischen Erwartungen an die Soziologie zu widersprechen. Letztere ergaben sich aus der politischen Unterstützung bei der universitären Etablierung. Carl Heinrich Becker forderte 1919 die Einrichtung soziologischer Lehrstühle. Als public sociology sollte sie zur Lösung der Krise Deutschlands beitragen. Diese Forderung am Beginn der Weimarer Zeit löste eine Debatte aus, die im Mittelpunkt der Ausführungen steht. Die Soziologen Leopold von Wiese und Ferdinand Tönnies widersprachen den politischen Erwartungen sowie dem Sozialismusvorwurf und der Negation der Wissenschaftlichkeit der Soziologie durch den Wirtschaftshistoriker Georg von Below. Die Debatte drehte sich also um die Frage der Anerkennung der Soziologie als eigenständiger Wissenschaft, auf die die Soziologen mit einer Strategie disziplinärer Professionalisierung reagierten und sich von der „Tradition öffentlicher Soziologie“ abgrenzten.
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