Autobiografische Updates als Antwort auf biografische Unsicherheitserfahrungen in der reflexiven Moderne

Autor/innen

  • Helga Pelizäus-Hoffmeister Universität der Bundeswehr München

Schlagworte:

Selbstthematisierungen, Autobiografisches Update, Biografiegenerator, biografische Sicherheit

Abstract

Die typischen Kennzeichen der reflexiven Moderne - wie der radikale Individualisierungsschub, die Pluralisierung der Lebensformen und der Wandel der Erwerbsstrukturen - bedeuten für die Individuen beträchtliche Flexibilisierungs- und Kontingenzerfahrungen in allen Lebensbereichen. Immer weniger können sie auf Unhinterfragtes und Selbstverständliches zurückgreifen, um für sich einen gewissen Grad an biografischer Sicherheit - an Erwartbarkeit, Planbarkeit und Vorhersehbarkeit des eigenen Lebensverlaufs - zu erreichen.

Diese individuellen, teils krisenhaften Unsicherheitserfahrungen fungieren aus meiner Sicht als Biografiegeneratoren, die eine neue Form der autobiografischen Darstellung bzw. eine neue Form des Selbstbekenntnisses hervorgebracht haben und die ich im Folgenden Autobiografische Updates bezeichne. Hierbei handelt es sich um sogenannte Jahres- oder Weihnachtsbriefe, in denen Menschen über ihre Erlebnisse aus dem vergangenen Jahr berichten. Sie erzählen darin von beruflichen und familiären Ereignissen und von privaten Sorgen und Nöten. Typische Empfängergruppen sind FreundInnen, Verwandte und auch ArbeitskollegInnen. Da diese "Lebensabschnittserzählungen" meist regelmäßig wiederkehrend am Ende jeden Jahres verschickt werden, nenne ich sie Updates. Meine These ist, dass diese autobiografischen Zeugnisse eine "Antwort" auf die unsicheren Bedingungen der reflexiven Moderne sind, da sie dazu beitragen können, die individuellen Unsicherheits- und Kontingenzerfahrungen besser zu bewältigen.

Ziel des Beitrags ist es einerseits, diese Textgattung von anderen Formen autobiografischer Darstellungen abzugrenzen und ihr vermehrtes Erscheinen seit den 1970er Jahren im Kontext reflexiver Modernisierung zu reflektieren. Andererseits soll unter Rückgriff auf eine empirische, qualitativ orientierte Untersuchung autobiografischer Updates ein Überblick darüber gegeben werden, in welcher Weise in diesen Briefen Unsicherheiten inszeniert und bewältigt werden und dadurch ein gewisser Grad an biografischer Sicherheit erzeugt wird.

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Veröffentlicht

2015-12-23

Ausgabe

Rubrik

Sektion Biographieforschung: Die Krise als Biographiegenerator