Postheroisches Individuum – überfordertes Individuum

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Abstract

Beobachtet man im Modus der Gegenwartsanalyse Gesellschaft auf ihre Individuen hin, fallen zwei Gegensätzlichkeiten auf: Einerseits erscheint das Individuum als Heros im klassischen Sinne. Dank Einsicht, Stärke und Reflektionsfähigkeit ist das Individuum in der modernen Gesellschaft verantwortlich für alle zentralen gesellschaftlichen Bereiche. Andererseits scheint das Individuum im Zeitalter des Postheroischen angekommen zu sein. Die Welt des kraftvoll-strahlend eigenverantwortlichen Individuums, das zu wissen wagt und so die Geschicke in die eigene Hand nimmt, wird überformt von „individuellen“ Kollateralschäden wie burnout und lebensstilbedingten Erkrankungen. Hinzu kommt eine Überwältigung durch krisenhafte Entwicklungen, die von naturwissenschaftlichem Fortschritt ebenso ausgehen wie von wirtschaftlicher Eigendynamik. Zeitdiagnosen etwa eines „erschöpften Selbst“ (Ehrenberg 2004), eines „unternehmerischen Selbst“ (Bröckling 2007) oder einer „Neuerfindung des Sozialen“ (Lessenich 2008) bringen diese Entwicklung zum Ausdruck. Der Mensch, der Heros der Aufklärung, scheint zum Tragikos geworden zu sein, der kaum umhin kann, die Geschichte des an den Umständen zugrunde gehenden, heldenhaften Tuns zu schreiben.

Gegenstand dieses Beitrags ist die These, dass sich die moderne Gesellschaft durch eine selbst geschaffene Komplexität an die Grenzen der Funktionsfähigkeit der Weltauslegungen gebracht hat, mit welchen sie die Welt als reduzierbare Komplexität schematisiert. Bereits die funktional differenzierte Gesellschaft ist auf die Fiktion des eigenverantwortlichen Individuums angewiesen. Denn genau diesen Mechanismus der Komplexitätsreduktion – Zurechnung von Ereignissen als individuell zu verantwortende kausale Folgen menschlichen Handelns – nimmt Gesellschaft zentral in Anspruch, um eine gerade aus der funktionalen Differenzierung und damit dem eigenständigen Operieren vor allem von Wissenschaft und Wirtschaft resultierende Komplexitätssteigerung zu bearbeiten. 

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Veröffentlicht

2017-03-01

Ausgabe

Rubrik

Plenum 8: Krisenfeste Individuen? Zur Relevanz und Kritik normativer Subjektperspektiven