Stigma „unerfüllter Kinderwunsch“? Situation und Handlungsstrategien von Paaren in reproduktionsmedizinischer Behandlung

Autor/innen

  • Charlotte Ullrich Medizinische Fakultät, Universität Heidelberg

Schlagwörter:

Kinderwunsch, Stigma, Reproduktionsmedizin

Abstract

Die Anzahl reproduktionsmedizinischer Behandlung nimmt beständig zu. Es wird ge-schätzt, dass bis heute weltweit mehr als fünf Millionen Kinder nach IVF (In-Vitro Fertilitation) geboren wurden. In Deutschland waren es im Jahr 2014 225.625 Kinder bei knapp 75.000 Behandlungszyklen (IVF, ICSI und Kryozyklen) in 131 Zentren. Zugleich ist die Reproduktionsmedizin in Medien, Populärkultur und der politischen Diskussion – auch vor dem Hintergrund einer Pluralisierung von Lebens- und Familienformen – präsent. So lässt sich durchaus argumentieren, dass die so genannte Kinderwunschbehandlung zu einem wenn nicht selbstverständlichen, so doch bekannten und genutzten medizinischen Angebot geworden ist. Dennoch halten – und hierauf gehe ich in meinem Beitrag ein – viele Paare ihren unerfüllten Kinderwunsch und seine Behandlung geheim. So geht eine Kinderwunschbehandlung für Paare – um eine Unterscheidung aus der Krankheitsverlaufskurvenforschung (Corbin, Strauss u.a.) aufzugreifen – nicht nur mit Behandlungs-, sondern auch mit Alltags- und Beziehungsarbeit einher. Der Umgang der Paare mit einer reproduktionsmedizinischen Behandlung in Familie, Freundeskreis und am Arbeitsplatz, enthält Momente, die sich als Stigma-Management im Goffman’schen Sinne beschreiben lassen. Die meisten Paare unterscheiden etwa zwischen einer kleinen Gruppe von Vertrauten, denen sie von der Kinderwunschbehandlung erzählen, und einer sehr viel größeren Gruppe, vor der sie diese bewusst geheim halten. Die Angst vor einer Stigmatisierung bleibt in den von mir geführten qualitativen Interviews mit Kinderwunschpatientinnen jedoch diffus und wird vor allem indirekt durch die Informationskontrolle sichtbar. Stigmatisierung in Form von tatsächlichen Ausschlüssen oder Diskriminierungserfahrungen sind für die Frauen weniger Thema, vielmehr geht die Kinderwunschbehandlung eher mit einer antizipierten Stigmatisierung einher.

In den von mir geführten Interviews und Beobachtungen vermischt sich häufig, was die Frauen als diskreditierbar ansehen: ihren Kinderwunsch, ihre ungewollte Kinderlosigkeit und/oder die reproduktionsmedizinische Behandlung. Nicht zuletzt diese Uneindeutigkeit verweist darauf, dass das Problem der Stigmatisierung der Kinderwunschbehandlung weniger durch eine Normalisierung (und weitere Etablierung) der Reproduktionsmedizin gelöst werden kann, als vielmehr die Bedingungen eines und Voraussetzung für ein Leben mit (eigenen) Kinder adressiert werden müssen.

Autor/innen-Biografie

  • Charlotte Ullrich, Medizinische Fakultät, Universität Heidelberg

    Charlotte Ullrich hat an der Ruhr-Universität Bochum Diplom Sozialwissenschaft studiert und dort 2011 promoviert. In Bochum war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin bei Prof. Dr. Ilse Lenz am Lehrstuhl für Soziologie: Geschlechter- und Sozialstrukturforschung und Koordinatorin der Marie-Jahoda-Gastprofessur für Internationale Geschlechterforschung (2002-2012). Sie war Teilnehmerin der Internationalen Frauenuniversität in Hannover (2000), Gastwissenschaftlerin am Department of Sociology and Anthropology, Northeastern University in Boston, USA (2006-2007) und am Global Center of Excellence for Reconstruction of the Intimate and Public Sphere der Universität Kyoto, Japan (2011-2012). Anschließend war sie als Postdoktorandin am Forschungskolleg Familiengesundheit im Lebensverlauf an der Hochschule Osnabrück tätig (2012-1/2015). Seit Dezember 2014 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Abteilung Allgemeinmedizin und Versorgungsforschung der medizinischen Fakultät der Universität Heidelberg.

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Veröffentlicht

2017-08-07

Ausgabe

Rubrik

Sektion Medizin- und Gesundheitssoziologie: Stigmatisierung als Thema in der Gesundheitsforschung