Offenheit, Reflexion, Differenzierung
Beiträge qualitativ-rekonstruktiver Forschung für die Zeitdiagnostik
Schlagworte:
Zeitdiagnose, Qualitative Forschung, AngstAbstract
Zeitdiagnosen und qualitative Forschung bewegen sich auf unterschiedlichen Ebenen: hier das mit großem Pinselstrich angefertigte Gemälde, dort die detailreiche, fokussierte Zeichnung. Im vorliegenden Beitrag wird am Beispiel von Zeitdiagnosen der verängstigten Gesellschaft gezeigt, welchen Beitrag die qualitative, insbesondere rekonstruktive Forschung für die Zeitdiagnostik leisten kann.
Erstens werfen Zeitdiagnosen die allfällige empirische „Gretchenfrage“ (Nunner-Winkler 2016) auf. Zu deren Klärung können unterschiedliche Methoden Unterschiedliches beitragen. Die Stärke qualitativ-rekonstruktiver Methoden ist ihre Offenheit für unerwartete und implizite Sinnstrukturen, beispielsweise für die Bedeutung von Ungerechtigkeit in Interviews zum Thema Unsicherheit. Zweitens wird der Forschungs- und Datengenerierungsprozess samt der Beiträge der Forschenden bzw. Interviewenden relativ umfassend dokumentiert und analysierbar gemacht. Damit wird die Reflexion statt Reifikation vorgängiger, u.a. zeitdiagnostisch gespeister Annahmen der Forschenden gefördert, etwa bezüglich der Relevanz von Angst als „Lebensgefühl". Drittens ermöglicht ein genaues Hinschauen notwendige Differenzierungen, die im großen Pinselstrich untergehen können, z.B. die Unterscheidung von Angst(kommunikation) als Emotion, als Positionierung und als Argument.
Im Ergebnis kann die Zusammenschau verschiedener empirischer Studien sowohl Zweifel an Zeitdiagnosen nähren als auch Stoff für neue Interpretationen der Gesellschaft liefern – etwa einer Gesellschaft des Ungerechtigkeitsempfindens, die eine Kommunikationskultur der Angst pflegt.
Literaturhinweise
Bauman, Zygmunt. 2006. Liquid fear. Cambridge, UK: Polity Press.
Beck, Ulrich. 1986. Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Beck, Ulrich. 1989. Risikogesellschaft – Die organisierte Unverantwortlichkeit. Aulavortrag an der Hochschule St. Gallen. St. Gallen: Herausgegeben von der Hochschule St. Gallen für Wirtschafts-, Rechts- und Sozialwissenschaften.
Beck, Ulrich. 2007. Weltrisikogesellschaft. Auf der Suche nach der verlorenen Sicherheit. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Beck, Ulrich. 2008. Die Neuvermessung der Ungleichheit unter den Menschen: Soziologische Aufklärung im 21. Jahrhundert. Eröffnungsvortrag zum Soziologentag ‚Unsichere Zeiten‘ am 6. Oktober 2008 in Jena. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Biess, Frank. 2008. Die Sensibilisierung des Subjekts: Angst und „neue Subjektivität“ in den 1970er Jahren. WerkstattGeschichte 51–71.
Blinkert, Baldo, Judith Eckert und Hans Hoch. 2015. (Un-)Sicherheitsbefindlichkeiten. Explorative Studie über Sicherheitseinschätzungen in der Bevölkerung im Rahmen des BaSiD-Projektes (Modul 3.1). In Subjektive und objektivierte Bedingungen von (Un-)Sicherheit. Studien zum Barometer Sicherheit in Deutschland (BaSiD), Hrsg. Rita Haverkamp und Harald Arnold, 147–203. Berlin: Duncker & Humblot.
Böcker, Julia, Lena Dreier, Melanie Eulitz, Anja Frank, Maria Jakob und Alexander Leistner, Hrsg. 2018. Zum Verhältnis von Empirie und kultursoziologischer Theoriebildung. Stand und Perspektiven. Weinheim und Basel: Beltz Juventa.
Bourdieu, Pierre. 1996. Die Praxis der reflexiven Anthropologie. Einleitung zum Seminar am der École des hautes études en sciences sociales, Paris, Oktober 1987. In Reflexive Anthropologie, Hrsg. Pierre Bourdieu und Loïc Wacquant, 251–294. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Bröckling, Ulrich. 2016. Man will Angst haben. Mittelweg 36 25:3–7.
Bude, Heinz. 2014. Gesellschaft der Angst. Hamburg: Hamburger Edition, HIS.
Burzan, Nicole, Silke Kohrs und Ivonne Küsters. 2014. Die Mitte der Gesellschaft: Sicherer als erwartet? Weinheim und Basel: Beltz Juventa.
Dehne, Max. 2017. Soziologie der Angst. Konzeptuelle Grundlagen, soziale Bedingungen und empirische Analysen. Wiesbaden: Springer Fachmedien Wiesbaden.
Deppermann, Arnulf. 2013. Interview als Text vs. Interview als Interaktion [61 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research 14:Art. 13.
Ditton, Jason, Jon Bannister, Elizabeth Gilchrist und Stephen Farrall. 1999. Afraid or Angry? Recalibrating the ‘Fear’ of Crime. International Review of Victimology 6:83–99.
Eckert, Judith. i. E. Gesellschaft in Angst? Zur theoretisch-empirischen Kritik einer populären Zeitdiagnose. Bielefeld: transcript.
Flecker, Jörg, und Manfred Krenn. 2009. Politische Verarbeitung gefühlter sozialer Unsicherheit: „Attraktion Rechtspopulismus“. In Prekarität, Abstieg, Ausgrenzung. Die soziale Frage am Beginn des 21. Jahrhunderts, Hrsg. Robert Castel und Klaus Dörre, 323–332. Frankfurt am Main: Campus.
Frevert, Ute. 2009. Was haben Gefühle in der Geschichte zu suchen? Geschichte und Gesellschaft 35:183–208.
Furedi, Frank. 2007. Culture of Fear revisited. Reprint. London, New York: Continuum.
Hollway, Wendy. 2005. Commentary 2. Commentaries on Potter and Hepburn, ‘Qualitative interviews in psychology: problems and possibilities’. Qualitative Research in Psychology 2:312–314.
Kaufmann, Franz-Xaver. 1970. Sicherheit als soziologisches und sozialpolitisches Problem. Untersuchungen zu einer Wertidee hochdifferenzierter Gesellschaften. Stuttgart: Enke.
Kruse, Jan. 2015. Qualitative Interviewforschung. Ein integrativer Ansatz. 2., überarbeitete und ergänzte Aufl. Weinheim und Basel: Beltz Juventa.
Lengfeld, Holger, und Jessica Ordemann. 2016. Die Angst der Mittelschicht vor dem sozialen Abstieg revisited. Eine Längsschnittanalyse 1984–2014. SOEPpapers Nr. 862. Berlin: DIW.
Lindemann, Gesa. 2008. Theoriekonstruktion und empirische Forschung. In Theoretische Empirie. Zur Relevanz qualitativer Forschung, Hrsg. Herbert Kalthoff, Stefan Hirschauer und Gesa Lindemann, 107–128. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Lucius-Hoene, Gabriele, und Arnulf Deppermann. 2004. Rekonstruktion narrativer Identität. Ein Arbeitsbuch zur Analyse narrativer Interviews. 2. Aufl. Wiesbaden: VS.
Luhmann, Niklas. 1988. Ökologische Kommunikation. Kann die moderne Gesellschaft sich auf ökologische Gefährdungen einstellen? 2. Aufl. Opladen: Westdeutscher Verlag.
Nunner-Winkler, Gertrud. 2016. Halbierte soziologische Phantasie. Budes Gesellschaftsanalyse fokussiert auf Angst und die Macht der Stimmungen. Erschienen am 11.08.2016, letzte Änderung 14.08.2016. literaturkritik.de – Rezensionsforum (Zugegriffen: 14.02.2019).
Pearson, Geoffrey. 1983. Hooligan. A history of respectable fears. Houndmills u.a.: Macmillan.
Prisching, Manfred. 2015. Besprechung von Heinz Bude, Gesellschaft der Angst. Soziologische Revue 38:575–580.
Rackow, Katja, Jürgen Schupp und Christian von Scheve. 2012. Angst und Ärger: Zur Relevanz emotionaler Dimensionen sozialer Ungleichheit. Zeitschrift für Soziologie 41:392–409.
Scheer, Monique. 2017. Die tätige Seite des Gefühls. In Pierre Bourdieu: Pädagogische Lektüren, Hrsg. Markus Rieger-Ladich und Christian Grabau, 255–267. Wiesbaden: Springer Fachmedien Wiesbaden.
Schimank, Uwe. 2007. Soziologische Gegenwartsdiagnosen – Zur Einführung. In Soziologische Gegenwartsdiagnosen, 2. Aufl., Hrsg. Uwe Schimank und Ute Volkmann, 9–22. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
Schwell, Alexandra. 2015. The Security-Fear Nexus: Some Theoretical and Methodological Explorations into a Missing Link. Etnofoor 27:95–112.
Sommer, Bernd. 2010. Prekarisierung und Ressentiments. Soziale Unsicherheit und rechtsextreme Einstellungen in Deutschland. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
Strasser, Johano. 2013. Gesellschaft in Angst. Zwischen Sicherheitswahn und Freiheit. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus.
Wiesbrock, Heinz, Hrsg. 1967. Die politische und gesellschaftliche Rolle der Angst. Frankfurt am Main: Europäische Verlagsanstalt.
Wohlrab-Sahr, Monika. 2015. Theorie fürs Große, Methoden fürs Kleine? Überlegungen zum methodisch gestützten Stabhochsprung in der Kultursoziologie. Sociologia Internationalis 53:1–19.
Downloads
Veröffentlicht
Zitationsvorschlag
Ausgabe
Rubrik
Lizenz
Beiträge im Verhandlungsband des 39. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie werden unter der Creative Commons Lizenz "Namensnennung-Nicht kommerziell 4.0 International (CC BY-NC 4.0)" veröffentlicht.
Dritte dürfen die Beiträge:
-
Teilen: in jedwedem Format oder Medium vervielfältigen und weiterverbreiten
-
Bearbeiten: remixen, verändern und darauf aufbauen
unter folgenden Bedinungen:
-
Namensnennung: Dritte müssen angemessene Urheber- und Rechteangaben machen, einen Link zur Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden
-
Nicht kommerziell: Dritte dürfen das Material nicht für kommerzielle Zwecke nutzen