„1968“ und die externalisierte Revolution

Autor/innen

  • Karl-Siegbert Rehberg

Schlagworte:

Neunzehnhundertachtundsechsig, Studentenrevolte, Bundesrepublik Deutschland bzw. BRD, Deutsche Demokratische Republik bzw. DDR, Westbindung, Geschichtsphilosophie, Kolonialismus, antikolonialistische Befreiungsbewegungen, Revolution, Universitätsreform, RAF, Terrorismus

Abstract

Durch die Erinnerung an das Symboljahr "1968", das zumindest für ein ganzes Jahrzehnt steht, sind die Tatsachen in großen Zügen bekannt, zumal sie fünfzig Jahre danach in den Medien vielfach in Erinnerung gerufen worden sind. Durch den Protest gegen den Vietnamkrieg internationalisiert, wurden die mit der Studentenbewegung verbundenen Konflikte in unterschiedlichen Ländern zugleich zum Katalysator für Auseinandersetzun­gen um jeweils spezifische nationale Problemlagen.

Aus deutscher Sicht kann ein Aspekt der Ereignisse ›2 x ›68‹ genannt werden, nämlich die Differenz zwischen den entgegengesetzten symbolischen Ereignissen des ›Pariser Mai‹ für die BRD und der Niederschlagung des ›Prager Frühlings‹ für die DDR. Das eine war mit Revolutionsphantasie aufgeladen, das andere mit dem Ende jeglicher Hoffnung auf eine Reformierbarkeit des Staatssozialismus verbunden.

Unter den theorieorientierten deutschen Verhältnissen waren das ›ganz Andere‹ (Theodor W. Adorno) und die Emphase der Utopie (Ernst Bloch) beflügelnde gedankliche Über­schreitungen des status quo und boten die (Neu-)Entdeckung der Marx’schen Kapitalismus­kritik überraschende Deutungsmöglichkeiten der gesellschaftlichen Realität, wenngleich nicht selten in scholastische und doktrinäre Selbstisolierungen einmündend.

Eine Störung der gesellschaftlichen Ordnung war die Studentenrevolte allemal, aber war es auch eine Revolution? Dieses Wort bekam eine Deckung vor allem durch den Import aus den Befreiungsbewegungen im Prozess der Dekolonialisierung, sodann durch die Mythisierung des von Mao Tse-tung angeführten ›Langen Marsches‹ und die kubanische Revolution samt die mit dem Namen Che Guevaras verbundene Ausbreitung auf ganz Südamerika. Aber die Revolution im eigenen Land blieb aus. Und doch hatte ›1968‹ durchaus seinen Anteil an einem tiefgreifenden gesellschaftlichen Wandel. Was in den Epizentren Berlin und Frankfurt entstanden war, wurde als ›Kulturrevolution‹ in fast allen Universitätsorten und schließlich im ganzen Land ›nachgespielt‹ und verband sich mit unterschiedlichsten anderen Formen des Aufbegehrens.

Vielleicht kam in Deutschland die wirkliche ›Revolution‹ aber erst im Zusammenhang mit der Liberalisierung und dem Zusammenbruch der Sowjetunion, also mit dem, was merkwürdigerweise mit einem Wort von Egon Krenz die ›Wende‹ heißt.

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Veröffentlicht

2019-10-17

Zitationsvorschlag

[1]
Rehberg, K.-S. 2019. „1968“ und die externalisierte Revolution. Komplexe Dynamiken globaler und lokaler Entwicklungen. Verhandlungen des 39. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Göttingen 2018. 39, (Okt. 2019).