Datenqualität und Selektivitäten digitaler Daten

Alte und neue digitale und analoge Datensorten im Vergleich

Autor/innen

Schlagworte:

Methoden der empirischen Sozialforschung, Big Data, Digitale Daten, Prozessproduzierte Daten, Forschungsinduzierte Daten, Qualitative Daten, Quantitative Daten, Mixed Methods, Corona-App, Datenqualität, Digitale Spaltungen, Rekursivität, Digitale Plattformen, Daten und Macht, Computational Social Sciences

Abstract

Der Begriff „digitale Daten“ ist unpräzise, weil in den Sozialwissenschaften spätestens seit den 1960ern Daten nicht nur digital erhoben, verarbeitet und analysiert wurden, sondern in der Forschungspraxis auch oft parallel analoge und digitale Daten erhoben wurden. Am Beispiel der quantitativen Sozialforschung schärft der Beitrag den Begriff der „digitalen Daten“ durch die Unterscheidung zwischen forschungsinduzierten, klassischen und neuartigen prozessproduzierten Daten („Big Data“). Auf dieser Basis zeigen wir, dass klassische Modelle der empirischen Sozialforschung zur Beurteilung der Datenqualität und Selektivitäten von prozessproduzierten Daten – wie etwa das sogenannte Bick-Müller-Modell – auch auf neuartige prozessproduzierte Daten übertragen können, deren Besonderheit es ist, dass sie meist im Kontext des Web 2.0 entstehen und i.d.R. ausschließlich digital sind. Mit Hilfe des Bick-Müller-Modells lassen sich die spezifischen Stärken und Schwächen von neuartigen prozessproduzierten Daten aufzeigen. Allgemein lässt sich festhalten, dass Web 2.0-Daten blinde Flecken aufweisen, insofern dass sowohl im nationalstaatlichen Rahmen, als auch im globalen Kontext große Teile der Bevölkerung keinerlei digitale Spuren hinterlassen. Diese digitalen Ausschlüsse folgen weitgehend herkömmlichen Mustern sozialer Ungleichheit: Im Gegensatz zu jungen, hochgebildeten Männern aus der oberen Mittelschicht in Großstädten des globalen Nordens hinterlassen ältere, geringgebildete Arbeiterfrauen aus dem ländlichen Afrika praktisch keinerlei digitale Spuren. Verwendet man Web 2.0-Daten in der Forschung, besteht damit die Gefahr, dass keinerlei, unvollständige oder verzerrte Informationen über die Personenkreise, die am stärksten sozial benachteiligt werden, gewonnen werden. Weiterhin kommt es zu einer Machtverschiebung hinsichtlich Dateneigentümerschaft vom Staat und der Bevölkerung hin zu multinationalen Konzernen. Dies heißt aber nicht, dass Web 2.0-Daten nicht für die Forschung geeignet sind. Vielmehr werden durch die Anwendung des Bick-Müller-Modells verschiedene analoge und digitale Datensorten miteinander vergleichbar, was wichtig ist, weil – wie die Analyse zeigt – sich nicht allgemein, sondern nur in Bezug auf eine spezifische Forschungsfrage zeigen lässt, welche Daten besser, weniger oder gar nicht geeignet sind.

Autor/innen-Biografien

Nina Baur, Technische Universität Berlin

Nina Baur ist Professorin für Methoden der empirischen Sozialforschung am Institut für Soziologie der Technischen Universität Berlin.

Peter Graeff, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel

Peter Graeff ist Professor für Soziologie und empirische Sozialforschung am Institut für Sozialwissenschaften an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel.

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Veröffentlicht

2021-09-15

Ausgabe

Rubrik

Sektion Wissenschafts- und Technikforschung: Digitale Daten und neue Methoden – Chancen und Herausforderungen für die Soziologie