Prekäre Arbeit, prekäre Anerkennung, prekäre Lebensverhältnisse

Ausweitung von Ungleichheiten in pandemischen Zeiten

Autor/innen

  • Christine Wimbauer Humboldt-Universität zu Berlin
  • Mona Motakef Technische Universität Dortmund

Schlagworte:

Corona-Pandemie, Prekarität, Anerkennung, Lebenszusammenhang, Ungleichheit, Geschlechterverhältnisse

Abstract

Derzeit führt uns die COVID-19-Krise sehr eindringlich die grundlegende Verletzbarkeit und Unsicherheit allen Lebens vor Augen. Auch die Prekarität der Ökonomie, der gesellschaftlichen Grundlagen und des Sozialen werden mehr als deutlich. Aber schon vor COVID-19 kam es mit dem sozialpolitischen Wandel (Stichwort „Hartz IV“) seit den 2000er Jahren in Deutschland zu einer Ausweitung prekärer Beschäftigung. Prekarisierung betraf darüber hinaus auch schon vor COVID-19 das gesamte Leben: Soziale Beziehungen, Familie, Paarbeziehungen, Liebe können prekär werden, die Sorge für sich und andere, die Gesundheit, soziale Teilhabe, Wohnraum und die Zukunftsperspektiven und weiteres (vgl. Motakef/Wimbauer 2020, Kap. 12.6). Auch prekäre Beschäftigung hat nicht nur ökonomische Ungleichheitsfolgen, zumal sie in der Regel mit geringem Einkommen verbunden ist, sondern auch mit Anerkennungsdefiziten in vielen Bereichen. Schließlich wirkt sie sich auch auf das Soziale aus: „Es löchert die Gesellschaft von innen raus auf“, so eine von uns Befragte. Wofür aber finden Menschen in prekären Beschäftigungen und Lebenslagen Anerkennung und welche Anerkennungsdefizite werden deutlich? Und wie entwickeln sich diese Anerkennungsdefizite und Ungleichheiten durch die gegenwärtige COVID-19-Pandemie weiter?

Wir stellen Ergebnisse des DFG-Projektes „Ungleiche Anerkennung? Arbeit und Liebe im Lebenszusammenhang prekär Beschäftigter“ (WI2142/5-1) vor (Wimbauer/Motakef 2020) und bringen diese mit der gegenwärtigen Corona-Krise zusammen. Im Projekt haben wir 24 prekär Beschäftigte (mit und ohne Paarbeziehung) in narrativen Paar- und Einzelinterviews befragt. Theoretisch nehmen wir eine geschlechter- und ungleichheitssoziologische und zudem eine Anerkennungsperspektive im Anschluss an Honneth ein. Wir untersuchen u.a.:

  • Wofür finden prekär Beschäftige in der Erwerbssphäre und in Paar-/Nahbeziehungen Anerkennung, wofür nicht? Welche Ungleichheiten zeigen sich dort? Welche Gruppen sind besonders prekär?
  • Lassen sich Anerkennungsdefizite in der Erwerbssphäre in anderen Berei­chen kompensieren oder kumulieren sie in verschiedenen Lebenslagen und im Lebensverlauf in multiplen Exklusionen?
  • Welche Rolle kommt dabei Geschlecht zu? Gerade Frauen leisten viel unbezahlte Sorgearbeit und sind oft mehrfach belastet, aber werden ökonomisch und intersubjektiv dafür kaum anerkannt.

 

Wir präsentieren empirische Ergebnisse aus dem Projekt und verbinden diese mit den aktuellen pandemischen Ereignissen. Eine ausführliche Version unseres Vortrages / Beitrages findet sich in Wimbauer/Motakef (2021); die gesamten Projektergebnisse in Wimbauer/Motakef (2020). Wir zeichnen nach, wie prekäre Lebenslagen im Lebenszusammenhang entstehen können. Deutlich wird, wie „problematisch und existenziell“ die Kumulation von Anerkennungsdefiziten für die Einzelnen sein kann. Besonders betroffen sind Menschen, die etwa aus gesundheitlichen Gründen nicht unbegrenzt erwerbsarbeiten können. Auch zeigen sich vielfältige Geschlechterungleichheiten: Anerkennungsdefizite und Ungleichheiten treffen oft prekär beschäftigte Frauen, die in einer Paarbeziehung leben und dort unsichtbar Sorge- und prekäre Erwerbsarbeit leisten. Dazu sind Alleinerziehende, Menschen ohne Paarbeziehung und/oder mit chronischen Erkrankungen oft besonders prekär und von multiplen Anerkennungsdefiziten betroffen.

Die COVID-19-Krise macht die große Verletzbarkeit der Menschen deutlich. Bereits jetzt zeichnen sich eine erhebliche Ausweitung von Prekarität und erhebliche Spaltungen und Verwerfungen ab: Hier stehen Beamte und Wissensarbeiter*innen im gut bezahlten Homeoffice oder gar entschleunigt sitzend im Gärtchen. Dort sind Menschen, die neuerdings „systemrelevant“, aber stark unterbezahlt etwa in Krankenhäusern, Nahrungsmittelproduktion/Verkauf (oft Frauen, oft unterbezahlt) oder bspw. der Polizei arbeiten und/oder Menschen, die mit Kindern, Vorerkrankungen und/oder Sorgen um Angehörige in der (kleinen) Wohnung sitzen oder arbeiten gehen (müssen). Hinzu kommen all die bereits jetzt prekär oder nicht Beschäftigten, die durch die ökonomischen Folgen der Lockdowns womöglich ihre wirtschaftliche Existenz verlieren. Größere Ungleichheiten, gesellschaftliche Spaltungen und Verwerfungen erscheinen vorprogrammiert.

 

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Veröffentlicht

2021-09-16

Ausgabe

Rubrik

Sektion Soziale Ungleichheit und Sozialstrukturanalyse: Aktuelle Forschungsprojekte zu Sozialstruktur und sozialer Ungleichheit