Back to the Roots

Ein Plädoyer für methodologische Begrenzung in der Migrationsforschung

Autor/innen

  • Marlene Müller-Brandeck Ludwig-Maximilians-Universität München

Schlagworte:

Reflexivität, Migrationsforschung, Methodologie, Beobachtung von Beobachtung

Abstract

Die Migrationsforschung ist in den letzten Jahrzehnten von einem umfangreichen „reflexive turn“ betroffen, der ihre grundlegen Begriffe und Konzepte nachhaltig ins Wanken gebracht hat. Dieser Beitrag möchte aufzeigen, dass eine Reflexion über methodologische Herausforderungen dann gelingt, wenn die Reflexion über die Spezifik der soziologischen Beobachtung beinhaltet. Diese Rückbesinnung, die Gesellschaft in ihrer Typisierung von Praxis zu beobachten, möchte ich als eine methodologische Anweisung verstehen: Der Beobachtung von Beobachtung. Diese, zugegeben einfache, methodologische Umstellung birgt gerade für die Migrationsforschung großes Potential, denn es ist gerade die Vielfalt und Komplexität des Gegenstandes, der eine methodische Verknappung notwendig macht. Die Beobachtung von Beobachtung hat den Vorteil, dass sie zwar um die Komplexität ihres Gegenstandes weiß, diese aber in ihrer Forschung nicht einfach abbildet und damit reproduziert. Das DFG-Projekt „Gesellschaftliche Andockstellen für Flüchtlinge“ beobachtet deshalb, wie in unterschiedlichen Kontexten Geflüchtete beobachtet werden. Das Projekt interessiert sich für die Praxis der Inklusion in Organisationen, in denen Geflüchtete mit Gesellschaft in Kontakt kommen: dem Amt, der Schule, der Arztpraxis, dem Arbeitsplatz und dem Theater. Geflüchtete werden in den unterschiedlichen Andockstellen unterschiedlich adressiert und jeweils nur in bestimmten Teilaspekten ihrer Person sichtbar gemacht, die für die jeweilige Andockstelle von Bedeutung ist. Diese Einsicht macht deutlich, dass sich soziale Situiertheit nicht nur als Wirkung von Macht- und Ungleichheitsverhältnissen beobachten lässt, sondern auch als Einfluss der Kontexte, in denen sich Geflüchtete befinden. Mit diesen empirischen Einblicken im Hintergrund soll deutlich werden, dass auch die Soziologie sich durch eine spezifische Perspektive auszeichnet, und eine methodische Verknappung auf die Beobachtung von Beobachtung kann dazu dienen, die Komplexität von Migrations- und Inklusionsprozessen zu beschreiben.

 

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Veröffentlicht

29.09.2023

Ausgabe

Rubrik

Sektion Migration und ethnische Minderheiten: Reflexivität als methodologische Herausforderung der Migrationsforschung