Wozu Identität?

Zur Identarisierung von Selbstverständnissen

Autor/innen

  • Stefan Hirschauer

Schlagworte:

Gruppismus, Identitätspolitik, Selbstverständnis, Identarisierung

Abstract

Was sind Menschen, wenn sie sagen, wer sie ‚sind‘? Sie sind, soziologisch besehen, (a) in ihren zahlreichen sozialen Zugehörigkeiten grundsätzlich sehr Vieles zugleich und nur situativ etwas vorübergehend Bestimmtes; (b) sind sie Vieles davon nicht eindeutig, weil sie auch in Zwischenräumen siedeln; und (c) sind sie Vieles für sich selbst relativ insignifikant, also auf niedrigem Relevanzniveau. Vor diesem Hintergrund betrachtet der Beitrag Identität als eine ethnosoziologische Kategorie, also einen Teilnehmerbegriff für einen bestimmten Aggregatzustand von Selbstver­ständ­nissen, der in Prozessen der Identarisierung entstehen kann. Nur in besonderen Lebenslagen geben Menschen ihrem biografisch gewachsenen aktuellen Selbstverstehen, das fluide mit Situationen und Beziehungen changiert, die Form einer Identität. Identitätspolitiken sind Begleit­erscheinungen eskalierender Humandifferen­zierungen. Sie politisieren ausgewählte Kategorien der Humandifferenzierung auf Basis von Identifizierungs- und Gruppierungs­prozessen. Für Individuen können Identitäten sowohl eine aktivierende psychische Ressource als auch eine behindernde Fixierung sein; für soziale Bewegungen eine politische Ressource wie eine Sackgasse der Fortentwicklung mit ihren Erfolgen; für die Gesellschaft sowohl eine Gelegenheit der Stiftung kultureller Ordnung als auch dauerhafte Quelle von Desintegration und Fragmentierung.

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Veröffentlicht

29.09.2023

Ausgabe

Rubrik

Plenum 2 - Innergesellschaftliche Pluralisierungen und Polarisierungen: Gruppen, Identitäten, Milieus