Gemeinschaft vs. Gesellschaft im Wechselspiel zwischen Weimarer Soziologie und Konservativer Revolution

Autor/innen

  • Martin Hauff Goethe-Universität Frankfurt

Schlagworte:

Tönnies, Gemeinschaft, Gesellschaft, Konservative Revolution

Abstract

Die neue Rechte zehrt heutzutage von Narrativen und ideologischen Prägungen, die aus dem Dunstkreis der Konservativen Revolution stammen und die sehr stark durch Polarisierungen bestimmt sind. Diese polarisierten Semantiken wurden einerseits durch sozialwissenschaftliche Forschung inspiriert und beeinflussten wiederum die soziologische Begriffsbildung in der Weimarer Republik. Diese spannungsgeladene Wechselwirkung zwischen akademischen Bereich und politischen Bewegungen lässt sich an der Unterscheidung zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft rekonstruieren.

Ferdinand Tönnies begründete in seinem Hauptwerk Gemeinschaft und Gesellschaft von 1887 seine Leitunterscheidung noch mit einer subtilen Analyse von Willensformen. Der durch Tönnies geprägte Dualismus erhielt seit der Neuauflage des Buches 1912 jedoch eine enorme öffentliche Resonanz und vollzog eine weltanschauliche Aufladung.

Im Zuge des 1. Weltkriegs radikalisierte sich dieses polarisierte Narrativ und wurde gegen feindliche Nationen gewendet. Thomas Mann meinte, die deutsche Kultur gegen die flache Zivilisation des Westens und den Krämergeist der Engländer verteidigen zu müssen. Dem Dualismus von Zivilisation und Kultur wurde von Oswald Spengler geschichtsphilosophische Weihen verliehen. Und auch der Ökonom Werner Sombart unterteilte die Völker in Händler und Helden. Diese sogenannten „Ideen von 1914“ wurden von deutschen Intellektuellen inhaltlich gegen die liberalen „Ideen von 1789“ und geographisch gegen den Westen abgegrenzt.

Nach dem 1. Weltkrieg wurden auch die neu errichteten Institutionen der Weimarer Republik, das Parlament und der demokratische Rechtsstaat, mit dem abschätzigen Begriff der Gesellschaft belegt. In der Zwischenkriegszeit war dieser rechtspopulistische Diskurs der Konservativen Revolution so dominant, dass dieser wieder auf die Sozialwissenschaften zurück färbte. Besonders die Soziologen Othmar Spann und Hans Freyer waren in den 1920ern sehr einflussreich. Sie kritisierten mithilfe des Begriffs der Gemeinschaft soziologische Ansätze, die im Geist der Gesellschaft verhaftet seien, also Ansätze, die von rationalen und individuellen Handelnden ausgehen.

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Veröffentlicht

29.09.2023

Ausgabe

Rubrik

Ad-Hoc: Polarisierungssemantiken und rechte Krisennarrative