Politik der Passung. Zur Herstellung von athletischer Bewegung im paralympischen Spitzensport

Autor/innen

  • Hanna Göbel Universität Hamburg

Schlagworte:

Affekt, Affizierung, Prothesen

Abstract

Spätestens seit den Paralympics 2012 in London und der Entgrenzung menschlicher Leistungsstandards in der Leichtathletik hat sich eine neue Öffentlichkeit für den einst stigmatisierten “Behindertensport” etabliert, die von vielen Experten schnell mit einer “gesellschaftlichen Öffnung” gleichgesetzt wurde. Die Prothesen amputierter SportlerInnen, insbesondere der Sprinter/Läufer und Weitspringer wurden nach London als “Geparden-Beine” gefeiert und ihre Träger als “Super-Helden”, weil sie bessere Ergebnisse erzielten als die nicht-amputierten SportlerInnen. Vielerorts wurde dies auf den technischen Fortschritt in der Entwicklung von Sportprothesen zurückgeführt und es hat sich dadurch unter anderem ein Fetisch für diese medizinischen Produkte etabliert, den es zuvor nicht gab.

Der Beitrag argumentiert auf Basis von praxeologisch angelegten Forschungen zum Training von Athleten, die sich auf die Paralympics 2016 in Rio de Janeiro vorbereiten. Er nimmt die technologiegläubigen Diagnosen und Analysen des Phänomens zum Ausgangspunkt, um auf die prekäre Situation der Passung von Prothesen und Athletenkörper als eine eigene Politik zur Aushandlung körperlicher Sozialitäten hinzuweisen. Passung wird als ein fortlaufender Prozess des Aushandelns und Justierens von dinglichen Komponenten am und im Körper und körperlicher Aktivitäten in den Dingen in den Blick genommen, der sowohl zu Subjektivierungen als AthletInnen als auch zu de-subjektivierenden Prozessen der Körper durch die Dinge führt. Dazu werden drei Punkte diskutiert: erstens wird eine praxeologische Analyseperspektive im Dialog mit sozial- und kulturwissenschaftlichen Forschungen der Affekttheorie entworfen. Zweitens wird damit auf eine spezifische Trainingssituation der AthletInnen geschaut: den sogenannten Wartungen des 'Vakuums', das sich zwischen Bein und Prothese einstellen muss, um die athletische Bewegung des Laufens herzustellen. Drittens werden die subjektivierenden als auch die de-subjektivierenden und performativen Prozesse dieser spezifischen Passung zwischen Körper und Ding diskutiert. 

Autor/innen-Biografie

Hanna Göbel, Universität Hamburg

Wissenschaftliche Mitarbeiterin (Post-Doc), Arbeitsbereich Kultur, Medien, Gesellschaft, Institut für Bewegungswissenschaft

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Veröffentlicht

2017-09-20

Ausgabe

Rubrik

Sektion Soziologie des Körpers und des Sports: Körper und Dinge: ein offenes Verhältnis?