Politik der Passung. Zur Herstellung von athletischer Bewegung im paralympischen Spitzensport
Schlagworte:
Affekt, Affizierung, ProthesenAbstract
Spätestens seit den Paralympics 2012 in London und der Entgrenzung menschlicher Leistungsstandards in der Leichtathletik hat sich eine neue Öffentlichkeit für den einst stigmatisierten “Behindertensport” etabliert, die von vielen Experten schnell mit einer “gesellschaftlichen Öffnung” gleichgesetzt wurde. Die Prothesen amputierter SportlerInnen, insbesondere der Sprinter/Läufer und Weitspringer wurden nach London als “Geparden-Beine” gefeiert und ihre Träger als “Super-Helden”, weil sie bessere Ergebnisse erzielten als die nicht-amputierten SportlerInnen. Vielerorts wurde dies auf den technischen Fortschritt in der Entwicklung von Sportprothesen zurückgeführt und es hat sich dadurch unter anderem ein Fetisch für diese medizinischen Produkte etabliert, den es zuvor nicht gab.
Der Beitrag argumentiert auf Basis von praxeologisch angelegten Forschungen zum Training von Athleten, die sich auf die Paralympics 2016 in Rio de Janeiro vorbereiten. Er nimmt die technologiegläubigen Diagnosen und Analysen des Phänomens zum Ausgangspunkt, um auf die prekäre Situation der Passung von Prothesen und Athletenkörper als eine eigene Politik zur Aushandlung körperlicher Sozialitäten hinzuweisen. Passung wird als ein fortlaufender Prozess des Aushandelns und Justierens von dinglichen Komponenten am und im Körper und körperlicher Aktivitäten in den Dingen in den Blick genommen, der sowohl zu Subjektivierungen als AthletInnen als auch zu de-subjektivierenden Prozessen der Körper durch die Dinge führt. Dazu werden drei Punkte diskutiert: erstens wird eine praxeologische Analyseperspektive im Dialog mit sozial- und kulturwissenschaftlichen Forschungen der Affekttheorie entworfen. Zweitens wird damit auf eine spezifische Trainingssituation der AthletInnen geschaut: den sogenannten Wartungen des 'Vakuums', das sich zwischen Bein und Prothese einstellen muss, um die athletische Bewegung des Laufens herzustellen. Drittens werden die subjektivierenden als auch die de-subjektivierenden und performativen Prozesse dieser spezifischen Passung zwischen Körper und Ding diskutiert.
Literaturhinweise
Barbalet, J. 2002: Emotions and sociology. Oxford: Blackwell.
Brümmer, K. 2015: Mitspielfähigkeit. Sportliches Training als formative Praxis. Bielefeld: transcript.
Clough, P. T. 2007: The affective turn. Theorizing the social. Durham, NC: Duke University Press.
Clough, P. T. 2010: Afterword: The future of affect studies. Body & Society, Vol. 16, Issue 1, 222–230.
Coole, D. H., Frost, S. 2010: New materialisms. Ontology, agency, and politics. Durham, NC: Duke University Press.
Elias, N. [1939] 1997: Über den Prozeß der Zivilisation. Band 2. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. Wandlungen der Gesellschaft, Entwurf zu einer Theorie der Zivilisation. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Gerhards, J. 1988: Soziologie der Emotionen: Fragestellungen, Systematik und Perspektiven. Weinheim: Juventa.
Göbel, H. K. 2017: Passungen herstellen. Zur Affizierungspraxis von Körpern und Prothesen in der Leichtathletik. In G. Klein, H. K. Göbel (Hg.), Performance und Praxis. Praxeologische Erkundungen in Tanz, Theater, Sport und Alltag. Bielefeld: transcript, 167–190.
Hardt, M. 2007: Foreword: What affects are good for. In P. T. Clough (ed.), The affective turn. Theorizing the social. Durham, NC: Duke University Press, x–xiii.
Harré, R. (Hg.) 1986: The social construction of emotions. Oxford: Blackwell.
Klein, G., Göbel, H. K. 2017: Performance und Praxis. Ein Dialog. In G. Klein, H. K. Göbel (Hg.), Performance und Praxis. Praxeologische Erkundungen in Tanz, Theater, Sport und Alltag. Bielefeld: transcript, 7–43.
Latour, B. 2004: How to talk about the body? The normative dimension of science studies. Body & Society, Vol. 10, Issue 2-3, 205–229.
Ott, M. 2010: Affizierung. Zu einer ästhetisch-epistemischen Figur. München: Edition Text + Kritik.
Pile, S. 2010: Emotions and affect in recent human geography. Transactions of the Institute of British Geographers, Vol. 35, Issue 1, 5–20.
Reckwitz, A. 2006: Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft.
Reckwitz, A. 2015: Praktiken und ihre Affekte. Mittelweg, 36. Jg., Heft 1-2, 27–45.
Simmel, G. [1907] 2009: Soziologie der Sinne. In G. Simmel, K. Lichtblau (Hg.), Soziologische Ästhetik. Wiesbaden: Springer VS, 135–151.
Scheer, M. 2011: Topografien des Gefühls. In U. Frevert, M. Scheer, A. Schmidt, P. Eitler, B. Hitzer, N. Verheyen, B. Gammerl, C. Bailey, M. Pernau (Hg.), Gefühlswissen. Eine lexikalische Spurensuche in der Moderne. Frankfurt am Main: Campus, 41–64.
Scheer, M. 2012: Are emotions a kind of practice (and is that what makes them have a history)? A Bourdieuan approach to understanding emotion. History and Theory, Vol. 51, Issue 2, 193–220.
Schnabel, A., Schützeichel, R. 2012: Emotionen, Sozialstruktur und Moderne. Wiesbaden: Springer VS.
Seyfert, R. 2012: Beyond personal feelings and collective emotions: Toward a theory of social affect. Theory, Culture & Society, Vol. 29, Issue 6, 27–46.
Seyfert, R. 2015: Affekt. Macht. Dinge. Die Aufteilung sozialer Sensorien in heterologischen Gesellschaften. In H. K. Göbel, S. Prinz (Hg.), Die Sinnlichkeit des Sozialen. Wahrnehmung und materielle Kultur. Bielefeld: transcript, 123–146.
Tarde, G. [1890] 2009: Die Gesetze der Nachahmung. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Wetherell, M. 2012: Affect and emotion. A new social science understanding. Los Angeles: Sage.
Internetquellen:
Henk, M. 2016: Ist er besser, weil er behindert ist? DIE ZEIT, Nr. 33/2016, 04. August 2016, www.zeit.de/2016/33/markus-rehm-olympische-spiele-behinderung-prothese-weitsprung (letzter Aufruf 25. August 2016).
Deutscher Leichtathletikverband 2016: Änderungen der Internationalen Wettkampfregeln 2016-2017. www.leichtathletik.de/fileadmin/user_upload/12_Service/Wettkampforganisation/01_Bestimmungen_Satzung_Vordrucke/Wettkampfbestimmungen/IWR_-_Regeländerungen_2016-2017_01.11.2015.pdf (letzter Aufruf 22. August 2016).
Downloads
Veröffentlicht
Ausgabe
Rubrik
Lizenz
Beiträge im Verhandlungsband des 38. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie werden unter der Creative Commons Lizenz "Namensnennung-Nicht kommerziell 4.0 International (CC BY-NC 4.0)" veröffentlicht.
Dritte dürfen die Beiträge:
-
Teilen: in jedwedem Format oder Medium vervielfältigen und weiterverbreiten
-
Bearbeiten: remixen, verändern und darauf aufbauen
unter folgenden Bedinungen:
-
Namensnennung: Dritte müssen angemessene Urheber- und Rechteangaben machen, einen Link zur Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden
-
Nicht kommerziell: Dritte dürfen das Material nicht für kommerzielle Zwecke nutzen