Zur ‚Krise der Intellektuellen‘ – von alten und neuen Propheten
Schlagworte:
Intervention, Intellektuelle, Pierre Bourdieu, soziale DifferenzierungAbstract
Der diagnostizierten ‚Krise der Intellektuellen‘, so die These dieses Beitrags, lässt sich mit einer relationalen Konstruktion von Kritik und Intervention begegnen. Die Etablierung charismatischer Persönlichkeiten, ausgerufen etwa in den Bestsellerlisten der Feuilletons, hat an Stabilität und gesamtgesellschaftlicher Strahlkraft verloren. Dennoch ist Intellektualität keineswegs verschwunden: Sie wird prinzipiell immer dann sichtbar, wenn aus einem partikularen Feld kultureller Produktion heraus im Namen allgemeiner Autorität – etwa der Moral, Logik, Ästhetik – in einem anderen Feld eingegriffen wird.
Für einen empirischen Zugang zur historischen Veränderung der Praktiken kritischer Intervention bietet sich der Fokus auf die Konstitution spezifischer Problemwahrnehmungen an. So lässt sich die Hervorbringung von Intellektualität (oder allgemeiner:) kritischer Intervention aus jeweils erfolgreichen Geltungsansprüchen rekonstruieren. Max Webers Unterscheidung zwischen Propheten und Priestern sowie sein Verweis auf deren relative Abhängigkeit von Laien dient dabei als theoretischer Bezugsrahmen zur Bildung idealtypischer Strategien der Intervention. Die kulturelle Autorität – die zuvor Intellektuellen zugeschrieben wurde – wird so zu einer umkämpften Ressource. Dazu kann Pierre Bourdieus Konzeption des Feldes der Macht herangezogen werden: Indem analysiert wird, aus welchen Feldern heraus von wem in andere eingegriffen werden kann, wird Intervention als Resultat erfolgreicher Positionierungsstrategien verstanden. Die Dominanz bestimmter Formen der Intervention und dazu korrespondierende Sozialfiguren – wie die des Intellektuellen der Nachkriegszeit – erscheint vor diesem Hintergrund als Ergebnis der Kräfteverhältnisse in und zwischen sozialen Feldern. Die Soziologie der Intellektuellen ist Geschichte, ihr Ansatz bietet aber nach wie vor produktive Einsichten für die Analyse der strukturellen Bedingungen gesellschaftlich legitimer und wirkmächtiger Positionen der Kritik.
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