Sinnkriterien und Handeln. Zur sozialtheoretischen Zentralität menschlicher Handlungsfähigkeit

Autor/innen

  • Jens Greve Universität Bielefeld

Schlagworte:

Handlungsbegriff, menschliches Handeln, Anthropologie, Ethnologie

Abstract

Der Beitrag verteidigt zwei zentrale Annahmen über die Stellung von menschlichen Individuen, welche sich bei Max Weber finden. Erstens bilden sie für ihn das ‚Atom’ der Soziologie, weil  Einheiten ‚unterhalb’ und ‚oberhalb’ von Individuen keine sinnfähigen Einheiten seien. Zweitens gehe die Soziologie dabei von menschlichen und nicht von nicht-menschlichen Handelnden aus. Berechtigt ist eine Kritik an der zweiten Annahme, weil Sinnfähigkeit differenziert werden muss. Die Anerkennung eines Kontinuums von Sinnfähigkeit führt aber gleichwohl nicht dazu, der Annahme einer Zentralität menschlicher Akteure zu widersprechen. Mit Zentralität soll bezeichnet werden, dass erstens menschliche Handelnde bestimmte Eigenschaften aufweisen, welche nicht-menschliche nicht besitzen, und dass zweitens auch ein Zugang zu den nicht-menschlichen auf die menschlichen Handelnden verweist. Die These der Zentralität wird anhand von drei Schritten entfaltet. Erstens wird untersucht, wie Individuen und Gesellschaft sozialtheoretisch ins Verhältnis gesetzt werden können. Dabei lassen sich drei Modelle unterscheiden: das Modell der strikten Trennung, das Modell der Interaktion und das Modell der Identifikation. Es zeigt sich, dass das eigentlich naheliegendste – das Interaktionsmodell – das problematischste ist. Zweitens wird nach dem Begriff des Akteurs und der Akteurin gefragt. Problematisch erscheint hier die Ausdehnung eines Begriffs des Handelnden, welche sich bei Latour findet. Geht man von anspruchsvolleren Begriffen des Handelns aus, so finden sich doch wieder Aspekte einer humanspezifischen Form der Sozialität, welche darauf beruht, dass Menschen nicht nur intentionale Wesen sind und andere als intentionale Wesen wahrnehmen, sondern diese Intentionalität wechselseitig in Rechnung stellen. Drittens ergibt sich eine Herausforderung dieser Perspektive durch ethnologische Beobachtungen. Eine Begrenzung auf menschliche Handelnde übersieht die Existenz solcher Ontologien, welche auch nicht-menschliche Handelnde in einem anspruchsvollen Sinne als vollständige Handelnde anerkennen. Gleichwohl lässt sich zeigen, dass auch hier eine anthropozentrische Perspektive gerechtfertigt werden kann.

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Veröffentlicht

2015-12-23

Ausgabe

Rubrik

Ad-hoc: Akteursdynamiken – Von der Krise des Akteurs