Prekäre Selbstverständlichkeiten. Neun prekarisierungstheoretische Thesen zu Diskursen gegen Gleichstellungspolitik und Geschlechterforschung*

Autor/innen

  • Christine Wimbauer Institut für Sozialwissenschaften Humboldt-Universität zu Berlin Unter den Linden 6 10099 Berlin
  • Mona Motakef Humboldt-Universität zu Berlin Institut für Sozialwissenschaften Postanschrift: Unter den Linden 6 10099 Berlin
  • Julia Teschlade Human Rights under Pressure. Interdisciplinary Doctoral and Post Doctoral Program Freie Universität Berlin Boltzmannstr. 3 14195 Berlin

Abstract

Es gibt eine neue Sichtbarkeit gegenüber gleichstellungspolitischen Belangen und feministischen Inhalten in medialen Öffentlichkeiten. Diese neue Sichtbarkeit kann nicht mit einer grundsätzlich neuen gesellschaftlichen Selbstverständlichkeit gegenüber emanzipatorischen Überlegungen und Forderungen kurz geschlossen werden, wie jüngere Diskurse gegen Gleichstellungspolitik und Geschlechterforschung eindrücklich belegen.

Diese durchaus vielfältigen Diskurse nehmen einen gemeinsamen Ausgangspunkt in einer Kritik an pluralistischen Lebensmodellen, wobei Bemühungen der politischen Gleichstellung von Männern und Frauen in Erwerbsarbeit und Familie ebenso kritisiert werden wie die Vielfalt geschlechtlicher Lebensweisen. Auch gegen Einwanderung, insbesondere von Menschen mit muslimischem Glauben, wird protestiert. Dem sogenannten Genderismus sei es gelungen, eine neue Herrschaft zu errichten, durch die heterosexuelle, weiße Männer zu Opfern der neuen Gleichstellungspolitik wurden – so eine zentrale Behauptung dieser Diskurse. Eine andere immer wiederkehrende Behauptung lautet, dass es im öffentlichen Raum nicht mehr möglich sei, sogenannte Wahrheiten auszusprechen – ‚Wahrheiten‘, die in der Regel Fragen zum Verhältnis von Geschlecht, Sexualität und Nation berühren.

Die sozialen Positionierungen, die sich in den Diskursen gegen Gleichstellungspolitik und Geschlechterforschung zusammenfinden, sind vielfältig, häufig bemühen sie rechte Argumentationsfiguren. Akteurinnen und Akteure finden sich etwa in der wertkonservativen Journalistik und Publizistik, in politischen Parteien (insbesondere der AFD), bei sogenannten Männerrechtlern und bei fundamentalistischen Christinnen und Christen. Die im Zuge der Diskurse gegen Gleichstellungspolitik und Geschlechterforschung ins Feld geführten Thesen lassen sich mühelos widerlegen, so ist es durch Gleichstellungspolitik nicht zu einer Umkehrung privilegierter sozialer Positionen gekommen, wie Studien zur ungleichen Verteilung von Sorgearbeit sowie zur Segregation der Arbeitsmärkte unstrittig belegen (Wimbauer/Teschlade/Motakef 2012).

Es bleibt also zu fragen, was eigentlich hinter dieser Debatte steckt. Der neuralgische Punkt der Diskurse liegt, so unser Argument, darin, dass versucht wird, Erfahrungen der Prekarität und Prekarisierung in den Griff zu bekommen. In unserem Beitrag entfalten wir die Argumentation, dass Diskurse gegen Gleichstellungspolitik und Geschlechterforschung auf vielfältigen Ebenen Reaktionen auf Prekarisierungsprozesse darstellen. Dabei gehen wir, geschlechtersoziologisch informiert, von einem weit gefassten Prekarisierungsbegriff aus (Motakef 2015), der materielle und symbolische Dimensionen kombiniert und die Ambivalenzen gegenwärtiger Prozesse ins Zentrum stellt.

Wir entfalten unsere Argumentation in neun Thesen: Diese umfassen Thesen zur Prekarisierung der Erwerbssphäre (These 1), des männlichen Ernährermodells (These 2) und dem Brüchigwerden moderner Gewissheiten (Doxa) (These 3). Wir schlagen die Deutung vor, dass Gleichstellungspolitik, Teile der Geschlechterforschung und damit verbundenen emanzipatorische (queer-)feministische, sexualpolitische und antirassistische Bewegungen ebenfalls zentrale Akteur_innen der Prekarisierung (von Gewissheiten) waren und auch weiterhin sind (These 4), diskutieren die These einer Prekarisierung der heterosexuellen Kleinfamilie (These 5) und lesen Prekarisierung als Produkt kapitalistischer Transformationsprozesse (These 6). Wir diskutieren die Tendenz der neoliberalen Aufwertung von Diversität (These 7), führen die These einer Komplizinnenschaft des antifeministischen Postfeminismus mit diesen Diskursen ein (These 8) und plädieren schließlich dafür, Erfahrungen der Prekarisierung und Prekarität politisch zu bewältigen (These 9).

*Dieser Beitrag erscheint in folgender Publikation:

Wimbauer, C., Motakef, M., Teschlade, J.: Prekäre Selbstverständlichkeiten. Neun prekarisierungstheoretische Thesen zu Diskursen gegen Gleichstellungspolitik und Geschlechterforschung.  In S. Hark, P.-I. Villa (Hg.): (Anti-)Genderismus. Sexualität und Geschlecht als Schauplätze aktueller politischer Auseinandersetzungen. Bielefeld: transcript, i.E.

Literaturhinweise

Motakef, M. 2015: Prekarisierung, Bielefeld: transcript.

Wimbauer, C., Teschlade, J., Motakef, M. 2012: Gleichheit oder Geschlechterkampf? Kommentar zu Volksheim oder Shopping Mall von Wolfgang Streeck. In: WestEnd: Neue Zeitschrift für Sozialforschung, 9 Jg., Heft 2, 180-193.

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Veröffentlicht

2016-05-15

Ausgabe

Rubrik

Ad-hoc: Genderismus – Der Umbau der Gesellschaft. Soziologische Annäherung an einen aktuellen Krisendiskurs