Muslimische Caritas mit humanistischem Anspruch: Islamic Relief und Humanity First im Vergleich

Autor/innen

  • Michael Nollert Universität Fribourg
  • Amir Sheikhzadegan Universität Fribourg

Schlagworte:

Islam, Hilfswerke, Wohlfahrtsstaat, Wohlfahrtsverbände

Abstract

Karitative Organisationen gewinnen an Bedeutung, wenn der Wohlfahrtsstaat nicht mehr bereit oder in der Lage ist, seine Aufgaben adäquat wahrzunehmen. Angesichts der Herausforderung europäischer Wohlfahrtsstaaten durch Neoliberalismus, Globalisierung und demographischen Trends ist abzusehen, dass vermehrt auch wieder religiös orientierte Organisationen bei der Bewältigung sozialer Probleme mitwirken. In Deutschland und der Schweiz sind die meisten dieser Organisationen noch immer christlich geprägt. Mit der Zuwanderung von MuslimInnen haben sich indes inzwischen auch in der Schweiz zahlreiche Hilfswerke etabliert, die sich an der muslimischen Caritas orientieren.

Im Vordergrund des vorliegenden Beitrags steht die karitative Tätigkeit von zwei transnationalen Organisationen, Islamic Relief und Humanity First, die gleichermassen ihre islamische Grundorientierung mit dem humanistischen Anspruch kombinieren, dass alle Notleidenden unabhängig von Glaube, Ethnizität oder Nationalität Unterstützung verdienen. Islamic Relief wurde 1984 in Birmingham von zwei dem sunnitischen Islam zugehörigen Medizin-Studenten als Reaktion auf die Hungernot im Horn von Afrika gegründet. In der Schweiz ist dieses Hilfswerk seit 1994 zunächst mit einem Büro in Basel,seit 2002 aber durch ein Büro in Genf vertreten. Humanity First wurde 1992 in London als das Hilfswerk der Ahmadiyya-Gemeinschaft durch dessen vierten Khalifa, Mirza Tahir Ahmad, gegründet, mit der Zielsetzung, weltweite Katastrophenhilfe zu leisten. Die Ahmadiyya sind eine im indischen Subkontinent entstandene und verfolgte muslimische Minderheit. Humanity First ist durch den in Zürich angesiedelten Zweig der Ahmadiyya auch in der Schweiz vertreten.

In ersten Abschnitt des Beitrags fokussieren wir auf die Wohlfahrtsproduktion von Verbänden im Allgemeinen und der muslimischen Verbände im Besonderen. Wir weisen darauf hin, dass die soziale Wohlfahrt nicht bloss auf den Leistungen, sondern u.a. auch auf der Leistung von zivilgesellschaftlichen Organisationen, insbesondere den Wohlfahrtsverbänden, beruht. Im zweiten Abschnitt wird der religiöse Kontext muslimischer Hilfswerke skizziert. Vorab weisen wir darauf hin, dass auch im Islam das karitative Gedankengut tief verankert ist. Dafür spricht nicht nur die Hervorhebung des Zakat als eine der fünf Säulen des Islam. Auch andere Begriffe wie Sadaqa (Almosen) Infaq (Spenden), oder Ihsan (Gütigkeit), die sehr häufig im Koran sowie im Hadith vorkommen, bestätigen die hohe Stellung der Diakonie im Islam. Im dritten Abschnitt konzentrieren wir uns auf den Entstehungskontext der beiden Hilfswerke. Es liegt auf der Hand, dass die Gründung beider Hilfswerke mit dem Anstieg der Immigration aus islamisch geprägten Ländern, dem Aufstieg des politischen Neoliberalismus und der Erosion des Sozialstaates koinzidiert. Im vierten Abschnitt werden Islamic Relief und Humanity First vergleichend analysiert, wobei wir zumindest sechs Dimensionen identifizieren, auf denen sich die beiden Organisationen unterscheiden. 

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Veröffentlicht

2015-12-23

Ausgabe

Rubrik

Sektion Religionssoziologie: Religion und Sozialpolitik