Von leuchtenden Hasen und sterbenden Menschen: Margaret Atwoods Roman Oryx and Crake als Wissenschaftsfolgenabschätzung

Autor/innen

  • Emanuel Herold Universität Bremen
  • Sina Farzin Universität Hamburg

Schlagworte:

Dystopie, Wissenschaft, Technik, Atwood, speculative fiction, Plausibilität

Abstract

Utopien, Anti-Utopien und Dystopien extrapolieren gegenwärtige soziale Entwicklungen und beschreiben ihre möglichen, erwünschten oder befürchteten Auswirkungen für zukünftige Gesellschaften. Sie sind zwar literarische Gattung, beziehen ihre Faszination aber aus ihrer zeitdiagnostischen Bezogenheit auf die Gegenwart. Als Schaltstellen zwischen Wirklichkeitssinn und Möglichkeitsdenken bilden sie eine Form, in der Kontingenz als Grunderfahrung moderner Gesellschaftlichkeit artikuliert werden kann. Wiederkehrendes Thema ist dabei die Auseinandersetzung mit dem veränderndem Potential naturwissenschaftlicher Forschung und Technologie. Unser Vortrag diskutiert das Verhältnis von Dystopie, Zeitdiagnose und Wissenschaftsfolgenabschätzung am Beispiel der MaddAddam-Trilogie Margaret Atwoods. Über drei Romane hinweg entwirft die Autorin das Panorama einer zukünftigen, durch Biotechnologiekonzerne bestimmten Gesellschaftsordnung, die durch die Privatisierung aller Daseinsbereiche und eine scharfe soziale Polarisierung gekennzeichnet ist. In dieser Lage initiiert der Genetiker Crake eine Pandemie, die nahezu die gesamte Menschheit auslöscht und erschafft einen neuen Menschentypus, der in friedlicher Weise die Welt besiedeln soll. Innerhalb dieses vielschichtigen Handlungsrahmens, der ein anti-utopisches Gesellschaftspanorama in eine post-apokalyptische Neuordnung aller sozialen und biologischen Verhältnisse überführt, spielt naturwissenschaftliche Forschung eine zentrale Rolle. Atwood selbst betont dabei die Verankerung der wissenschaftsbasierten Handlungsdetails in der
Sphäre des gegenwärtig Machbaren. Für diese Form der Fiktion prägt sie den Terminus speculative fiction.

Vor dem Hintergrund des hier skizzierten schriftstellerischen Selbstverständnisses Margret Atwoods soll der Beitrag den Anspruch der „speculative fiction“ explizieren und als zeitdiagnostisches Instrument befragen: Entlang einer Lektüre des erst en Bandes der Triologie, Oryx and Crake, soll verdeutlicht werden, wie Atwood reale wissenschaftliche Ereignisse aufgreift. Durch die Beleuchtung der wissenschaftsbezogenen Wirklichkeitsreferenzen soll die Frage adressiert werden, welche Relevanz diese Art und Weise der Verarbeitung gegenwärtiger Forschung für die wissenschafts- und gesellschaftskritischen Potentiale des Romans hat: Inwiefern kann spekulative Literatur zur Reflexion „gefährlicher Forschung“ beitragen?

Literaturhinweise

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Veröffentlicht

2015-12-15

Ausgabe

Rubrik

Ad-hoc: Gefährliche Forschung? – Literatur als Wissenschaftsfolgenabschätzung