Die Korrektur der (geschlossenen) Gesellschaft – Zur Einführung
Schlagworte:
Differenzierung, Integration, ÜbersetzungAbstract
Wer behauptet, die moderne Gesellschaft sei korrekturbedürftig, muss mit wenig Widerspruch rechnen. Wenn hierzu aber angenommen wird, es handele sich um eine geschlossene Gesellschaft – oder zumindest um geschlossene, eigensinnige gesellschaftliche Einheiten –, dann scheinen Korrekturen allenfalls als mehr oder weniger geschickte Anregungen zur Selbstbeherrschung möglich.
Wie die geschlossenen Informationsverarbeitungen bornierter Systeme zur Reflektion ihres eigensinnigen Operierens und damit zur Korrektur der Folgen funktionaler Differenzierung angeregt werden könnten, ist eine klassische Frage der Rechtssoziologie. Von den klassischen Antworten, den Korrekturbeauftragten Staat und/oder Recht, verspricht man sich inzwischen mitunter eher Beihilfe. Auf der Suche nach wirksameren Korrigierenden ist man bei den sogenannten Instanzen "zivilgesellschaftlicher Gegenmacht" oder "Vierten Gewalten" fündig geworden.
So nachvollziehbar diese Theoriewende empirisch erscheinen mag, so ist doch zu konstatieren, dass die Kernfrage, wie nämlich geschlossene Einheiten zu Korrekturen ihrer selbst- wie fremdschädigenden Expansionstendenzen angeregt werden könnten – und was das eigentlich bedeutet –, damit nicht beantwortet ist.
Die Beobachtung, dass die als Korrekturspezialisten auftretenden Instanzen – vom Investigativ-Journalismus bis zu Hacker-Kollektiven – im Organisieren ihrer Anregungen möglichst wenig dem Zufall überlassen wollen, wirft eher weitere Fragen auf: (Wie) Lässt sich die Korrektur der Gesellschaft organisieren? An wen richten neue wie klassische Instanzen wie was? Landen derartige Ansprüche nach Übersetzungskaskaden letzten Endes wieder im Recht? Versprechen sich die neuen Korrigierenden gar mehr vom Recht als es Teile der Rechtssoziologie tun? Haben Korrekturmaßnahmen ihrerseits so etwas wie unbeabsichtigte Nebenfolgen? Dass sich ebenfalls hochgradig organisierte Korrekturabwehrmaßnahmen beobachten lassen, wenn Staaten Troll-Armeen oder Konzerne ihr „Reputation Management“ aufrüsten, lässt sich in diesem Sinne als Folge von Korrekturkommunikationen im Medium der Publizität deuten; das laute Nachdenken über Korrektur macht hellhörig.Literaturhinweise
Baecker, D. 1994: Soziale Hilfe als Funktionssystem der Gesellschaft. Zeitschrift für Soziologie, 23. Jg., Heft 2, 93–110.
Baecker, D. 2017; in Vorbereitung: Ausgangspunkte einer Theorie der Digitalisierung. In B. Leukert, R. Gläß, R. Schütte (Hg.), Digitale Transformation des Handels [Arbeitstitel], https://catjects.files.wordpress.com/2015/06/ausgangspunkte_theorie_digitalisierung1.pdf (letzter Aufruf 4. Januar 2017).
Benkler, Y. 2006: The Wealth of Networks. New Haven: Yale University Press.
Bommes, M. 1999: Migration und nationaler Wohlfahrtsstaat. Ein differenzierungstheoretischer Entwurf. Opladen: Westdeutscher Verlag.
Bonacker, T. 2003: Die Ironie des Protests. Zur Rationalität von Protestbewegungen. In ders., A. Brodocz, T. Noetzel (Hg.), Die Ironie der Politik. Über die Konstruktion politischer Wirklichkeiten. Frankfurt am Main, New York: Campus, 195–212.
Burawoy, M. 2007: For Public Sociology. In D. Clawson, R. Zussman, J. Misra, N. Gerstel, R. Stokes, D. L. Anderton, ders. (Hg.), Public Sociology: Fifteen eminent sociologists debate politics and the profession in the twenty-first century. Berkeley: University of California Press, 23–66.
Butler, J. 2006: Haß spricht. Zur Politik des Performativen. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Duhigg, C. 2016: What Google learned from its quest to build the perfect team. The New York Times Magazine, 25.02.2016, http://www.nytimes.com/2016/02/28/magazine/what-google-learned-from-its-quest-to-build-the-perfect-team.html?_r=0 (letzter Aufruf 4. Januar 2017).
Fuchs, P. 2013: Die Unbeeindruckbarkeit der Gesellschaft: Ein Essay zur Kritikabilität sozialer Systeme. In M. Amstutz, A. Fischer-Lescano (Hg.), Kritische Systemtheorie. Zur Evolution einer normativen Theorie. Bielefeld: transcript, 99–110.
Fuchs, P., Schneider, D. 1995: Das Hauptmann-von-Köpenick-Syndrom. Überlegungen zur Zukunft funktionaler Differenzierung. Soziale Systeme, 1. Jg., Heft 2, 203–224.
Gillmor, D. 2006: We the Media. Sebastopol: O'Reilly.
Habermas, J. 1962: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Habermas, J. 1968: Erkenntnis und Interesse. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Irmisch, A. 2011: Astroturf. Eine neue Lobbyingstrategie in Deutschland? Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
Kaldewey, D. 2015: Die responsive Struktur der Wissenschaft: ein Kommentar. In H. Matthies, D. Simon, M. Torka (Hg.), Die Responsivität der Wissenschaft. Wissenschaftliches Handeln in Zeiten neuer Wissenschaftspolitik. Bielefeld: transcript, 209–230.
Kaldewey, D. 2017: Von Problemen zu Herausforderungen: Ein neuer Modus der Konstruktion von Objektivität zwischen Wissenschaft und Politik. In S. Lessenich (Hg.), Geschlossene Gesellschaften. Verhandlungen des 38. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Bamberg 2016.
Laux, H., Rosa, H. 2015: Clockwork Politics – Fünf Dimensionen politischer Zeit. In H. Straßheim, T. Ulbricht (Hg.), Zeit der Politik. Demokratisches Regieren in einer beschleunigten Welt. Leviathan Sonderband 30. Baden-Baden: Nomos, 52–70.
Lloyd, J., Toogood, L. 2015: Journalism and PR. News Media and Public Relations in the Digital Age. London, New York: I.B. Tauris.
Luhmann, N. 1981: Politische Theorie im Wohlfahrtsstaat. München: Olzog.
Luhmann, N. 1991: Soziologie des Risikos. Berlin, New York: de Gruyter.
Luhmann, N. 1996a: Protest: Systemtheorie und soziale Bewegungen. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Luhmann, N. 1996b: Die Realität der Massenmedien. Opladen: Westdeutscher Verlag.
Luhmann, N. 1997: Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Luhmann, N. 2011|1975: Strukturauflösung durch Interaktion. Ein analytischer Bezugsrahmen. Soziale Systeme, 17. Jg., Heft 1, 3–30.
Marcic, R. 1955: Skizze einer Magna Charta der Presse. Einige Grundgedanken zum Entwurf eines neuen Pressegesetzes. Juristische Blätter, 77. Jg, Heft 8, 192–196.
Marcinkowski, F. 1993: Publizistik als autopoietisches System. Politik und Massenmedien. Eine systemtheoretische Analyse. Opladen: Westdeutscher Verlag.
Marcinkowski, F. 2002: Massenmedien und die Integration der Gesellschaft aus Sicht der autopoietischen Systemtheorie: Steigern die Medien das Reflexionspotential sozialer Systeme? In K. Imhof, R. Blum, O. Jarren (Hg.), Integration und Medien. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag, 110–121.
Mölders, M. 2012: Differenzierung und Integration. Zur Aktualisierung einer kommunikationsbasierten Differenzierungstheorie. Zeitschrift für Soziologie, 41. Jg., Heft 6, 478–494.
Mölders, M. 2014: Die Erreichbarkeit der Politik. Governance-Forschung und die Autonomie der Politik. In M. Franzen, A. Jung, D. Kaldewey, J. Korte (Hg.), Autonomie revisited. Beiträge zu einem umstrittenen Grundbegriff in Wissenschaft Kunst und Politik. Zeitschrift für Theoretische Soziologie Sonderband 2. Weinheim: Beltz Juventa, 284–304.
Mölders, M. 2015a: Der Wachhund und die Schlummertaste. Zur Rolle des Investigativ-Journalismus in Konstitutionalisierungsprozessen. Zeitschrift für Rechtssoziologie, 35. Jg., Heft 1, 49–67.
Mölders, M. 2015b: Das Janusgesicht der Aufklärung und der Lenkung. Irritationsgestaltung: Der Fall ProPublica. Medien & Kommunikationswissenschaft, 63. Jg., Heft 1, 3–17.
Möller, K., Siri, J. (Hg.) 2016: Systemtheorie und Gesellschaftskritik. Perspektiven der Kritischen Systemtheorie. Bielefeld: transcript.
Nassehi, A. 1997: Inklusion, Exklusion, Integration, Desintegration. Die Theorie funktionaler Differenzierung und die Desintegrationsthese. In W. Heitmeyer (Hg.), Was hält die Gesellschaft zusammen? Bundesrepublik Deutschland: Auf dem Weg von der Konsens- zur Konfliktgesellschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 113–148.
Nassehi, A. 2011: Gesellschaft der Gegenwarten: Studien zur Theorie der modernen Gesellschaft II. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Nassehi, A. 2015: Die letzte Stunde der Wahrheit. Warum rechts und links keine Alternativen mehr sind und Gesellschaft ganz anders beschrieben werden muss. Hamburg: Murmann.
Renn, J. 2006: Übersetzungsverhältnisse. Perspektiven einer pragmatistischen Gesellschaftstheorie. Weilerswist: Velbrück.
Rosa, H. 2005: Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Scherr, A. (Hg.) 2015: Systemtheorie und Differenzierungstheorie als Kritik. Perspektiven in Anschluss an Niklas Luhmann. Weinheim: Beltz Juventa.
Schimank, U. 2015: Grundriss einer integrativen Theorie der Gesellschaft. Zeitschrift für Theoretische Soziologie, 4. Jg., Heft 2, 236–268.
Schneider, W. L. 2008: Wie ist Kommunikation ohne Bewusstseinseinschüsse möglich? Eine Antwort auf Rainer Greshoffs Kritik der Luhmannschen Kommunikationstheorie. Zeitschrift für Soziologie, 37. Jg., Heft 6, 470–479.
Schrape, J.-F. 2011: Social Media, Massenmedien und gesellschaftliche Wirklichkeitskonstruktion. Berliner Journal für Soziologie, 21. Jg., Heft 3, 407–429.
Schwinn, T. 2001: Differenzierung ohne Gesellschaft. Umstellung eines soziologischen Konzepts. Weilerswist: Velbrück.
Stichweh, R. 2004: Gestaltungsmöglichkeiten des Staates in der Wissensgesellschaft unter Bedingungen globalisierter Funktionssysteme. In Friedrich-Ebert-Stiftung, Forum Berlin (Hg.), Föderalismus im Diskurs. Perspektiven einer Reform der bundesstaatlichen Ordnung. Berlin: Friedrich-Ebert-Stiftung, 185–196.
Stichweh, R. 2015: Zum Forschungsprogramm des Forum Internationale Wissenschaft der Universität Bonn. FIW Working Paper 1, https://www.fiw.uni-bonn.de/publikationen/FIWWorkingPaper/fiw-working-paper-no.-1 (letzter Aufruf 4. Januar 2017).
Teubner, G. 2011a: Verfassungen ohne Staat? Zur Konstitutionalisierung transnationaler Regimes. In S. Kadelbach, K. Günther (Hg.), Recht ohne Staat? Zur Normativität nichtstaatlicher Rechtsetzung. Frankfurt am Main, New York: Campus, 49–100.
Teubner, G. 2011b: Das Projekt der Verfassungssoziologie: Irritationen des nationalstaatlichen Konstitutionalismus. Zeitschrift für Rechtssoziologie, 32. Jg., Heft 2, 189–204.
Teubner, G., Willke, H. 1984: Kontext und Autonomie: Gesellschaftliche Selbststeuerung durch reflexives Recht. Zeitschrift für Rechtssoziologie, 6. Jg., Heft 1, 4–35.
Ulrich, D.-C. 2016: Die Chimäre einer globalen Öffentlichkeit. Internationale Medienberichterstattung und die Legitimationskrise der Vereinten Nationen. Bielefeld: transcript.
Weischenberg, S. 1983: Investigativer Journalismus und ‚kapitalistischer Realismus‘. Zu den Strukturbedingungen eines anderen Paradigmas der Berichterstattung. Rundfunk und Fernsehen, 31. Jg., Heft 3/4, 349–369.
Downloads
Veröffentlicht
Ausgabe
Rubrik
Lizenz
Beiträge im Verhandlungsband des 38. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie werden unter der Creative Commons Lizenz "Namensnennung-Nicht kommerziell 4.0 International (CC BY-NC 4.0)" veröffentlicht.
Dritte dürfen die Beiträge:
-
Teilen: in jedwedem Format oder Medium vervielfältigen und weiterverbreiten
-
Bearbeiten: remixen, verändern und darauf aufbauen
unter folgenden Bedinungen:
-
Namensnennung: Dritte müssen angemessene Urheber- und Rechteangaben machen, einen Link zur Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden
-
Nicht kommerziell: Dritte dürfen das Material nicht für kommerzielle Zwecke nutzen