Geplanter oder hervorgebrachter Verschleiß? Das Potential (umwelt)soziologischer Praxistheorien zum Verstehen von Obsoleszenz bei Konsumgütern

Autor/innen

  • Melanie Jaeger-Erben Zentrum Technik und Gesellschaft Technische Universität Berlin

Schlagworte:

Lebensdauer der Dinge, Obsoleszenz, kulturelle Figuration, seamless web, Praxeologie, Praxistheorie

Abstract

Das digitale Zeitalter und der moderne „Konsumismus“ werden nicht nur durch steigenden Sachbesitz und die zunehmende elektronische Ausstattung des Alltags sichtbar, sondern auch durch Berge von Elektroschrott und Sondermüll, problematische soziale Produktionsbedingungen in den Herstellerländern und die ökologischen Kosten steigender Produktion. Die Frage nach der "Haltbarkeit" oder Lebens- und Nutzungsdauer der Dinge und den Ursachen für eine vorzeitige Obsoleszenz, d.h. das Veralten und "aus-der-Mode-Kommen" ist daher für den zukünftigen Umgang mit Ressourcen zentral. Die maßgebliche Ursache bei der Hervorbringung von Obsoleszenz wird dabei oft in einem ökonomischen Paradigma gesehen, in dem Forschung und Technik ökonomischen Prämissen untergeordnet sind. Die Ursachenzuschreibung ist dabei nahezu linear und richten sich an Hersteller, die langlebige Produkte durch "geplante Obsoleszenz" verhindern. 

Diese ökonomistische, auf Entscheidungen rekurrierende Interpretation ignoriert jedoch die Komplexität einer materiellen Kultur, die Obsoleszenz als gesellschaftliche Normalität hervobringt. Unter Rückgriff auf praxeologische Ansätze der Soziologie wird Obsoleszen als kulturelle Figuration und nahtloses Gewebe beschrieben. Sie wird zum einen in Prozessen der Sinn- und Funktionszuschreibung und der Aushandlung von Bedeutungen von materiellen Artefakten kommunikativ hergestellt und reproduziert, wobei soziale Bedeutungen und Handlungslogiken in der kulturellen Figuration verschiedener gesellschaftlicher Praxisfelder – Wirtschaft, Produktion, Handel, Konsum, Politik – ineinandergreifen. Obsoelsezn wird zudem auch material hervorgebracht als Teil eines „seamless web“ aus Technik, Wissenschaft und Gesellschaft und der komplexen Verwobenheit menschlicher Akteure und materieller Artefakten in ihren sozialen Praktiken des Produzierens, Konsumierens, Entwertens, Nachnutzens, Neukaufens und Wegwerfens etc.

Autor/innen-Biografie

Melanie Jaeger-Erben, Zentrum Technik und Gesellschaft Technische Universität Berlin

Dr. Melanie Jaeger-Erben, studierte Psychologie und Soziologie in Göttingen und Uppsala und promovierte 2010 in Umweltsoziologie. Sie ist derzeit Leiterin einer BMBF-Nachwuchsgruppe am Zentrum Technik und Gesellschaft der TU Berli.

Literaturhinweise

Baldé, C. P., Wang, F., Kuehn, R., Huisman, J. 2015: The global e-waste monitor – 2014. Bonn: United Nations University, Institute for the Advanced Study of Sustainability IAS-SCYCLE.
Bisgaard, T., Tuck, K. 2014: The business case for eco-innovation. Nairobi: United Nations Environment Programme.
Bodenstein, G., Leuer, H. (Hg.) 1977: Geplanter Verschleiss in der Marktwirtschaft. Reihe Wirtschaftswissenschaften, Band 17. Frankfurt am Main.
Cox J., Griffith, S., Giorgi, S., King, G. 2013: Consumer understanding of product lifetimes. Resources, Conservation and Recycling, Vol. 79, 21–29.
Elias, N. 1970: Was ist Soziologie? Grundfragen der Soziologie, Band 1. München: Juventa.
EWSA 2016: Wie beeinflussen Informationen über die Lebensdauer den Verbraucher? Brüssel: Europäischer Wirtschafts-und Sozialausschuss.
FAZ 2014: Stirb Toaster. https://fazarchiv.faz.net/payment/faznet?key=/-hsn-7vi7t (letzter Aufruf 01. Februar 2017).
Feldmann, K., Sandborn, P. 2007: Integrating technology obsolescence considerations into proudct design planning. Proceedings of the ASME 2007 International Design Engineering Conference. New York: American Society of Mechanical Engineers ASME.
Frankfurter Rundschau 2014: Der programmierte Schrott. http://www.fr-online.de/wissenschaft/elektrogeraete-im-muell-der-programmierte-schrott,1472788,30039994.html (letzter Aufruf 01. Februar 2017).
Hahn, H. P. 2014: Materielle Kultur – Eine Einführung. Berlin: Reimer, 40-45.
Handelsblatt 2013: Hersteller planen Lebensdauer von Geräten. http://www.handelsblatt.com/finanzen/steuern-recht/recht/geplanter-verschleiss-hersteller-planen-lebensdauer-von-geraeten/8712424.html (letzter Aufruf 01. Februar 2017).
Hörning, K. H. 2015: Was fremde Dinge tun. Sozialtheoretische Herausforderungen. In H. P. Hahn, J. Assmann (Hg.), Vom Eigensinn der Dinge. Für eine neue Perspektive auf die Welt des Materiellen. Berlin: Neofelis, 163–176.
Hughes, T. 1986: The seamless web: Technology, science, etcetera, etcetera. Social Studies of Science, Vol. 16, Issue 2, 281–292.
Krajewski, M. 2014: Fehler-Planungen. Zur Geschichte und Theorie der industriellen Obsoleszenz. TG Technikgeschichte, 81. Jg., Heft 1, 91–114.
Kreiß, C. 2014: Geplanter Verschleiß. Wie die Industrie uns zu immer mehr und immer schnellerem Konsum antreibt – und wie wir uns dagegen wehren können. München: Europa Verlag.
Oetzel, G. 2012: Das Globale Müll-System. Vom Verschwinden und Wieder-Auftauchen der Dinge. In M. Maring (Hg.), Globale öffentliche Güter in interdisziplinären Perspektiven. Band 5 der Schriftenreihe des Zentrums für Technik- und Wirtschaftsethik am Karlsruher Institut für Technologie. Karlsruhe: KIT Scientific Publishing, 78–98.
Packard, V. 1958: The hidden persuaders. 4th edition. Cardinal Edition, C. 288. New York: David McKay Publications.
Packard, V. 1960: The waste makers. 4th edition. New York: David McKay Publications.
Prakash, S., Dehoust, G., Gsell, M., Schleicher, T., Stamminger, R. 2016: Einfluss der Nutzungsdauer von Produkten auf ihre Umweltwirkung: Schaffung einer Informationsgrundlage und Entwicklung von Strategien gegen „Obsoleszenz“. Dessau: Umweltbundesamt, https://www.umweltbundesamt.de/sites/default/files/medien/378/publikationen/texte_11_2016_einfluss_der_nutzungsdauer_von_produkten_obsoleszenz.pdf (letzter Aufruf 15. Januar 2017).
Rammert, W. 2006: Technik, Handeln und Sozialstruktur. Eine Einführung in die Soziologie der Technik. Technical University Technology Studies, Working Paper, Nr. 3-2006. Berlin: Technische Universität Berlin.
Rammert, W., Schulz-Schaeffer, I. 2002: Technik und Handeln. Wenn soziales Handeln sich auf menschliches Verhalten und technische Artefakte verteilt. In W. Rammert, I. Schulz-Schaeffer (Hg.), Können Maschinen handeln? Soziologische Beiträge zum Verhältnis von Mensch und Technik. Frankfurt am Main u.a.: Campus, 11–65.
Reckwitz, A. 2003: Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken. Eine sozialtheoretische Perspektive. Zeitschrift für Soziologie, 32. Jg., Heft 4, 282–301.
Reckwitz, A. 2000: Die Transformation der Kulturtheorien. Zur Entwicklung eines Theorieprogramms. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft.
Schäfer, H. 2016: Einleitung. Grundlagen, Rezeption und Forschungsperspektiven der Praxistheorie. In H. Schäfer (Hg.), Praxistheorie. Ein soziologisches Forschungsprogramm. Bielefeld: transcript, 9–25.
Schatzki, T. 2013: Practice theory as flat ontology. In G. Spaargaren, D. Weenink, M. Lamers (eds.), Practice theory and research. Exploring the dynamics of social life. London: Routledge, 28–42.
Schatzki, T. 2002: The site of the social: A philosophical account of the constitution of social life and change. University Park, PA: Penn State University Press.
Schatzki, T. 1996: Social practices. A Wittgensteinian approach to human activity and the social. Cambridge: Cambridge University Press.
Slade, G. 2006: Made to break. Technology and obsolescence in America. Cambridge, MA: Harvard University Press.
Schoen, L. 2016: Elektrogeräte werden immer kürzer genutzt. Umweltbundesamt, http://www.umweltbundesamt.de/presse/pressemitteilungen/elektrogeraete-werden-immer-kuerzer-genutzt (letzter Aufruf 20. Juli 2017).
Sander, K., Schilling, S. 2010: Optimierung der Steuerung und Kontrolle grenzüberschreitender Stoffströme bei Elektroaltgeräten/Elektroschrott. Umweltbundesamt Texte, Nr. 11-2010. Dessau-Roßlau: Umweltbundesamt.
Spiegel Online 2011: Verführung mit Methode. http://www.spiegel.de/netzwelt/gadgets/apples-design-strategie-verfuehrung-mit-methode-a-790318.html (letzter Aufruf 01. Februar 2017).
Spinney, J., Burningham, K., Cooper, G., Green, N., Uzzell, D. 2012: 'What I've found is that your related experiences tend to make you dissatisfied': Psychological obsolescence, consumer demand and the dynamics and environmental implications of de-stabilization in the laptop sector. Journal of Consumer Culture, Vol. 12, Issue 3, 347–370.
UNEP 2011: Recycling rates of metals. A status report. Nairobi: United Nations Environment Programme.
Weber, H. 2014: Einleitung. „Entschaffen“. Reste und das Ausrangieren, Zerlegen und Beseitigen des Gemachten. TG Technikgeschichte, 81. Jg., Heft 1, 3–32.
Welt 2013a: Der geplante Defekt. https://www.welt.de/print/welt_kompakt/print_wissen/article114625303/Der-geplante-Defekt.html (letzter Aufruf 01. Februar 2017).
Welt 2013b: Hersteller sorgen mit perfiden Tricks für Umsatz. https://www.welt.de/wirtschaft/webwelt/article119505169/Hersteller-sorgen-mit-perfiden-Tricks-fuer-Umsatz.html (letzter Aufruf 01. Februar 2017).
Wieser H., Tröger, N., Hübner, R. 2015: Die Nutzungsdauer und Obsoleszenz von Gebrauchsgütern im Zeitalter der Beschleunigung. Eine empirische Untersuchung in österreichischen Haushalten. Wien: Kammer für Arbeiter und Angestelle.
Zeit Online 2012: Mit dem Schraubenzieher gegen die Elektroschrott-Lawine. http://www.zeit.de/news/2012-10/30/technik-mit-dem-schraubenzieher-gegen-die-elektroschrott-lawine-30120803 (letzter Aufruf 01. Februar 2017).

Downloads

Veröffentlicht

2017-10-09

Ausgabe

Rubrik

Sektion Umweltsoziologie: Neue Trends in der Umweltsoziologie