Wiederkehr, Verschwinden oder Entfremdung des Selbst?

Ereignishafte Figurationen des Unbestimmten in der Behandlung von Patienten durch die Tiefe Hirnstimulation.

Autor/innen

  • Marc Strotmann Goethe-Universität Frankfurt

Schlagworte:

Ereignis, Medizin

Abstract

Die gegenwärtige Entwicklung innovativer Medizintechnologien erweist sich als ein lebendiges wie gespenstisches Geschehen. Sie erzeugt therapeutische Handlungsspielräume für Krankheitsformen, die vormals als nicht mehr behandelbar galten und sich jeglicher kurativen Einflusssphäre entzogen. Gleichermaßen berühren sich mit der Effizienz der Eingriffsmöglichkeiten, Regionen des Ungewissen über die Wirkmechanismen des jeweiligen technologischen Verfahren. Die hieraus resultierenden Deutungsherausforderungen betreffen sowohl die beteiligten Ärztinnen, Patienten und Angehörige (Peter, Funcke 2013). Als exemplarisch für ein solche gleichzeitige Hervorbringung medizinisch hoffnungsvoller sowie vertraute Erfahrungsweisen verunsichernder Technologien wird in diesem Vortrag die neurochirurgische Behandlungsmethode der tiefen Hirnstimulation (THS) als Gegenstand soziologischer Betrachtung thematisiert. Die THS ist ein reversibler Eingriff, bei welchen vermittels stereotaktischer Techniken impulsgebende Elektroden tief ins Hirn eingesetzt werden. Die je nach diagnostizierten Störungsbild anvisierten Zielregionen werden im Anschluss an die Implantation elektronisch stimuliert. Medikamentös nicht mehr zu behandelnde Symptome können reduziert werden. Trotz ihrer infolge zahlreicher klinischer Studien nachgewiesenen Effizienz bildet die THS weiterhin eine kontroverse Behandlungsmethode, die sowohl unter medizinischen als auch ethischen Prämissen diskutiert wird. Einerseits kristallisiert sich am Nicht-Wissen über die spezifischen Wirkungszusammenhänge die Notwendigkeit einer erweiterten klinischen Forschung. Andererseits verweist das Auftreten nicht-intendierter Nebenwirkungen, die von Patient_innen, wie deren Angehörigen als individuelle Persönlichkeitsveränderungen wahrgenommen werden, auf die Relevanz einer interpretativen Bestimmung der subjektiven Erfahrung von Seiten der Betroffenen. Der Beitrag nimmt sich zum Ziel, entlang einer empirischen Fallstudie, in der eine Patientin vor und nach der Operation begleitet wurde, und vermittelt durch eine ereignistheoretische Konzeption, auf die Auslegungsbedingungen für betroffene Patient_innen im Zuge der neurotechnologischen Anwendung der THS aufmerksam zu machen.

Literaturhinweise

Böschen, Stefan und Peter Wehling. 2012. Neue Wissensarten: Risiko und Nicht-Wissen. In Handbuch Wissenschaftssoziologie, Hrsg. Sabine Maasen, Mario Kaiser, Martin Reinhart und Sutter Barbara, 317–327. Wiesbaden: Springer.

Derrida, Jacques. 1993. Falschgeld. Zeit Geben I. München: Wilhelm Fink.

Derrida, Jacques. 2004. Marx‘ Gespenster. Der Staat der Schuld, die Trauerarbeit und die neue Internationale. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Gardner, John. 2017. Rethinking the Clinical Gaze. Patient-Centred Innovation in Paediatric Neurology. Palgrave Macmillan.

Gilbert, Frederic et al. 2017. I Miss Being Me; Phenomenological Effects of Deep Brain Stimulation. AJOB Neuroscience 8(2):96–109.

Gisquet, Elsa. 2008. Cerebral implants and Parkinson’s disease: A unique form of biographical disruption? Social Science & Medicine 67(11):1847–1851.

Herrington, Todd M. et al. 2016. Mechanisms of Deep Brain Stimulation. Journal for Neurophysiology 115(1):19–38.

Lindemann, Gesa. 2009. Die Verkörperung des Sozialen. Theoriekonstruktion und empirische Forschungsperspektiven. In dies. Das Soziale von seinen Grenzen her denken, 162–181. Weilerswist: Vellbrück.

Meier, Marietta. 2015. Spannungsherde. Psychochirurgie nach dem zweiten Weltkrieg. Göttingen: Wallstein.

Montgomery, Erwin B. und John T. Gale. 2008. Mechansisms of action deep brain stimulation (DBS). Neuroscience and Biobehavioral Reviews 32:388–407.

Müller, Sabine, Merlin Bittlinger und Henrik Walter. 2017. Threats to Neurosurgical Patients Posed by the Personal Identity Debate. Neuroethics 10:299–310.

Nyholm, Sven. 2017. Is the Personal Identity Debate a “Threat” to Neurosurgical Patients? A Reply to Müller et al. Neuroethics 11:229–235.

Peter, Claudia und Dorett Funcke (Hrsg.). 2013. Wissen an der Grenze. Zum Umgang mit Ungewissheit und Unsicherheit in der modernen Medizin. Frankfurt/New York: Campus.

Rammert, Werner und Cornelius Schubert. 2017. Technik. In Handbuch Körpersoziologie: Forschungsfelder und methodische Zugänge, Hrsg. Robert Gugutzer, Gabriele Klein und Michael Meuser, 349–363. Wiesbaden: Springer.

Rheinberger, Hans-Jörg. 2006. Die Evolution des Genbegriffs – Perspektiven der Molekularbiologie. In ders. Epistemologie des Konkreten. Studien zur Geschichte der modernen Biologie, 221–244. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Ricoeur, Paul. 1996. Das Selbst als ein Anderer. München: Wilhelm Fink.

Schubert, Cornelius. 2006. Die Praxis der Apparatemedizin. Ärzte und Technik im Operationssaal. Frankfurt/New York: Campus.

Schubert, Cornelius. 2011. Medizinisches Körperwissen als zirkulierende Referenzen zwischen Körper und Technik. In Körperwissen, Hrsg. R. Keller, M. Meuser, 187–206. Wiesbaden: Springer.

Wehling, Peter. 2006. Im Schatten des Wissens? Perspektiven der Soziologie des Nichtwissens. Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft.

Downloads

Veröffentlicht

2019-07-30

Zitationsvorschlag

[1]
Strotmann, M. 2019. Wiederkehr, Verschwinden oder Entfremdung des Selbst? Ereignishafte Figurationen des Unbestimmten in der Behandlung von Patienten durch die Tiefe Hirnstimulation. Komplexe Dynamiken globaler und lokaler Entwicklungen. Verhandlungen des 39. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Göttingen 2018. 39, (Juli 2019).

Ausgabe

Rubrik

Ad-Hoc: Komplexe Dynamiken zwischen Medizin und Alltagswelt. Sozialer Wandel im Spannungsfeld zwischen der Institutionalisierung medizinischer Innovationen und ihrer individuellen Übersetzung in Alltagserfahrungen