Das umstrittene Erbe von 1989
Gesellschaftliche Aneignungen, Umdeutungen, Erinnerungspolitiken
Abstract
Der Beitrag problematisiert die bisherige soziologische Debatten zu 1989 aus einer dezidiert kultursoziologischen Perspektive. Herausgearbeitet wird der Charakter von 1989 als ebenso charismatischer wie umstrittener „Erinnerungsort“ (Nora). Dieser Erinnerungsort war von Anfang an ambivalent und umstritten. Ambivalent, weil sich ab dem Herbst 1989 sehr komplexe Entwicklungen überlagert haben und eigendynamisch ineinanderschoben. Dafür spricht die angesprochene Vielfalt der Bezeichnungen, die aus dieser Zeit stammen, und ganz verschiedene Perspektiven und Betroffenheiten sowie Affekte offenbaren, die sich mit diesem Ereignis verbinden. Umstritten ist er, weil sich an ihm früh kollektive Gedächtnisse gespalten und diversifiziert haben, und dies weiterhin tun – bis zum gegenseitigen Unverständnis oder gar Bruch zwischen damals Beteiligten. Der Beitrag plädiert vor diesem Hintergrund für eine verstärkte Hinwendung zu den eigensinnigen Narrativen, die von den verschiedenen Akteuren ins Spiel gebracht werden, aber auch für eine stärkere Selbstreflektion der deutenden Sozialwissenschaften.
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