Bei Strafe ihres Untergangs

Digitale Infrastrukturen als Spannungsverstärker zwischen Gesellschaftssimulation und Organisationserhalt

Autor/innen

  • Jörg Pohle Alexander von Humboldt Institut für Internet und Gesellschaft
  • Martin Rost Unabhängiges Landeszentrum für Datenschutz Schleswig-Holstein

Schlagworte:

Digitalisierung, Infrastruktur, Verfahren, Modellierung, Machteinhegung, operative Funktionsanforderungen an Technik

Abstract

Seit Jahrzehnten werden mit ungebrochener Intensität, wenn auch unter wechselnden Terminologien, gesellschaftliche Risiken aus der zunehmenden Durchdringung der Gesellschaft mit moderner vernetzter und automatisierter Datenerhebungs-, Speicherungs- und Auswertungstechnologien (vaDESAT) diskutiert. Welt und Gesellschaft werden im Computer "verdoppelt", aber nicht als Kopie, sondern als Konstruktion – als Modelle, ob in Form von Daten, Programmen oder User Interfaces, die auf Vorannahmen und Vorentscheidungen basieren, auf Wahrheitsunterstellungen und Relevanzsetzungen, Definitionen von Optimalitätskriterien und Entscheidungen über die Problematisierung oder Nichtproblematisierung bestimmter Auswirkungen auf bestimmte Akteurïnnen. Sie sind grundsätzlich von den Interessen derjenigen geprägt, die die Modelle erzeugen, denn die Modellbildung unterliegt dabei der Modellierungshoheit der modellierenden Organisationen. Organisationen sind damit in der Lage, mit Rückgriff auf Technik Funktionssysteme zu simulieren, was nicht zum Scheitern von Gesellschaft führen muss, aber zur Regression von Sozialstruktur führen kann, von der funktionalen Differenzierung der Moderne wieder zur Stratifikation, denn im Computer wird gesellschaftliche Differenzierung nur insoweit und in der Form reproduziert, wie sie den Organisationsinteressen dienlich ist; sie wird weggelassen, wo sie aus Organsisationssicht ineffizient für die Erreichung der Organisationsziele ist oder diesen gar widerspricht. Während sich Verfassungsstaaten von Organisationen dadurch unterscheiden, dass sie sich selbst einhegen, indem sie Selbsteinhegung versprechen und normativ absichern, Verfahren zur Überprüfung der Einhaltung dieses Versprechens kreieren, Institutionen zur Durchsetzung der Selbsteinhegung schaffen und sich deren Entscheidungen unterwerfen, stehen Organisationen, die große digitale Infrastrukturen entwickeln und einsetzen, in denen Gesellschaft simuliert wird, so die zentrale These des Beitrags, vor der Wahl, entweder ihrer Funktionslogik zu folgen, dann können sie die gesellschaftlichen Kontingenzquellen nur als berechenbare "Abziehbilder" in Modellform umsetzen, oder, wenn sie jedoch die Kontingenzen zulassen, den Weg der Staaten zu gehen, ihre eigene Funktionslogik zu unterminieren und ihre eigenen Organisationsgrenzen zu sprengen.

Downloads

Veröffentlicht

2021-09-03

Ausgabe

Rubrik

Ad-hoc: Infrastruktur und Normativität – ein Verhältnis unter Spannung