Die Tragödie der Kultur als Tragödie der Soziologie oder wie die Soziologie das Menschliche aus dem Blick zu verlieren droht

Anmerkungen zu einer fatalen Entwicklung

Autor/innen

  • Peter-Ulrich Merz-Benz

Schlagworte:

Kultur, Soziologie, Tragödie, Geist, Seele, Rationalisierung, das Menschliche

Abstract

Kulturen sind Konkretheiten, Sinneinheiten in der „Fülle“ der Geschichte, vom Menschen geschaffen zur Verwirklichung des mit ihm gegebenen Versprechens. Diese Bestimmung von Kultur stammt von Johann Gottfried Herder und gilt ebenso für Georg Simmel. Bei Simmel tritt indes das Tragische der Kultur hervor. Kultur ist der Inbegriff einer Bewegung: des zu sich selbst Findens der menschlichen Seele. Doch ihr Weg führt durch die ,Sphäre‘ des „Geistes“. Kunst, Recht, Religion, Technik, Wissenschaft, Sitte – in ihnen hat der Geist eine „beharrende Existenz gewonnen“; und in ihnen, nach der ihnen eigenen sachlichen Ordnung, werden die Bewegungen der Seele fortan „gesammelt“ und gelenkt. Durch das „Gefüge der Kultur“ verläuft mithin ein „Spalt“ und die „Idee der Kultur“ verliert ihre „Heimat“. Der Mensch „läuft Gefahr, von seiner eigenen Schöpfung erschlagen zu werden“.

Was bei Georg Simmel vorgezeichnet ist, wird bei Alfred Weber explizit Thema: Die Tragödie der Kultur ist auch die Tragödie der Wissenschaft – und dementsprechend auch der Soziologie. Die Tragödie der Soziologie ist eine zweifache: Zum einen ist die Soziologie angewiesen auf ihre immanente Ordnung, auf ihre Begriffe und Denkfiguren. Die sozialen und kulturellen Lebensformen sind jedoch mehr als der Soziologie durch ihre Betrachtungsweise vermittelt wird. Was die Soziologie sieht, sind die „Ausdrucksseiten“ und „Ausdrucksarten“ der Kultur, nicht die kulturellen Universalien selbst. Das ist ihr Schicksal. Zum anderen läuft die Soziologie Gefahr, sich ,ihrer Sache‘, und letztlich sich selbst, zu entfremden – dann, wenn der Rationalisierungsprozess, welcher ihr Denken zusehends durchsetzt, mit all den Formen und Prinzipien, die ihn ,aus­machen‘, Realitätscharakter annimmt. Eingeschlossen in die „beharrende Existenz“ ihres eigenen Denkens droht die Soziologie die Bewegungen der Seele und mithin das Menschliche gänzlich aus dem Blick zu verlieren; und der Weg zu den Hyperrealitäten von Jean Baudrillard ist nicht mehr weit. Was den zweiten Teil der Tragödie angeht, hält die Soziologie ihr Schicksal indes in den eigenen Händen. Ideengeschichtliche Aufklärung hilft ihr, dies zu erkennen.

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Veröffentlicht

2021-08-09

Ausgabe

Rubrik

AG Sozial- und Ideengeschichte der Soziologie: Die humanistische Bestimmung der Soziologie