Foucaultsche Perspektiven auf Gesellschaft und Migration
Schlagworte:
Poststrukturalistische Theorie, Gesellschaftstheorie, Michel Foucault, Migrationsgesellschaft, MigrationsforschungAbstract
In Folge der Ausdifferenzierung und „reflexiven Wende“ der Migrationsforschung werden zunehmend Problematiken wie die unbedachte Verwendung nationalstaatlicher Kategorien oder die objektivierende Sicht auf Migration thematisiert. Eine Ursache dieser Problematiken sehen viele Beiträge in der mangelnden Anbindung an über das Fachgebiet der Migration hinausgehende wissenschaftliche Debatten, wobei einige ein „Theoriedefizit“ identifizieren. Hier setzt der Beitrag an, um dazu beizutragen, Migrationsforschung enger mit Sozial- und Gesellschaftstheorien zu verknüpfen und dadurch soziologische Teilgebiete enger aufeinander zu beziehen. Dieses Erkenntnisinteresse greife ich bezüglich poststrukturalistischer Theorien auf, die sich besonders eignen, um dichotome Kategorien und einseitige Perspektiven der Migrationsforschung zu hinterfragen, wobei ich mich insbesondere auf Michel Foucault beziehe. In einem ersten Schritt zeige ich auf, wie Studien der Migrationsforschung sich auf Foucault beziehen. Daraufhin stelle ich den Ansatz einer (de-)fragmentierenden Gesellschaftstheorie im Anschluss an Foucault zur Diskussion. Dazu setze ich bei Mechanismen an, durch die Gesellschaftlichkeit produziert wird und deren Spannungsverhältnisse mit Begriffen von „Bevölkerung“ und „Volk“/„Nation“ erschlossen werden können. Dies ermöglicht es, fixe Begriffe von Gesellschaft infrage zu stellen, die oftmals als Bezugsgröße für die Betrachtung und Bewertung von Migrationsphänomen herangezogen werden, wie es dominante Integrationsdiskurse zeigen. Im dritten und letzten Schritt skizziere ich, wie eine solche Theorieperspektive für die Migrationsforschung genutzt und durch diese weiterentwickelt werden kann. Die sich hieraus ergebende Reflexion des Zusammenhangs von Migration und Gesellschaft ermöglicht es, Migration gesellschaftstheoretisch zu kontextualisieren und zugleich die gesellschaftskonstituierende Bedeutung von Migrationsbewegungen und Grenzziehungen herauszuarbeiten.
Literaturhinweise
Amelina, Anna, Manuela Boatcă, Gregor Bongaerts und Anja Weiß. 2021. Theorizing societalization across borders: Globality, transnationality, postcoloniality. Current Sociology 69:303–314.
Balibar, Étienne. 2012. Gleichfreiheit. Politische Essays. Berlin: Suhrkamp.
Bojadžijev, Manuela, und Regina Römhild. 2014. Was kommt nach dem „transnational turn“? Perspektiven für eine kritische Migrationsforschung. In: Vom Rand ins Zentrum. Perspektiven einer kritischen Migrationsforschung, Hrsg. Labor Migration, 10–24. Berlin: Panama-Verl.
Bommes, Michael. 2011. Nationale Paradigmen der Migrationsforschung. IMIS-Beiträge 38:15–52.
Bublitz, Hannelore. 1999. Foucaults Archäologie des kulturellen Unbewußten. Zum Wissensarchiv und Wissensbegehren moderner Gesellschaften. Frankfurt am Main: Campus-Verl.
Castles, Stephen. 2010. Understanding Global Migration: A Social Transformation Perspective. Journal of Ethnic and Migration Studies 36:1565–1586.
Dijstelbloem, Huub, und Dennis Broeders. 2015. Border surveillance, mobility management and the shaping of non-publics in Europe. European Journal of Social Theory 18:21–38.
Fiałkowska, Kamila, Karolina Łukasiewicz und Agnieszka Radziwinowiczówna. 2021. Humanitarian crisis at the Polish-Belarusian frontier ─ old and new diagnoses from external EU borders. CMR Spotlight. https://www.migracje.uw.edu.pl/wp-content/uploads/2022/01/Spotlight-DECEMBER-2021-2-1.pdf.
Foucault, Michel. 1983. Der Wille zum Wissen, Bd. 716. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Foucault, Michel. 2001. In: Verteidigung der Gesellschaft. Vorlesungen am Collège de France 1975/1976, Bd. 1585. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Foucault, Michel. 2003. Dits et écrits III 1975–1979. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Foucault, Michel. 2006a. Die Geburt der Biopolitik. Vorlesung am Collège de France 1978/1979, Bd. 1809. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Foucault, Michel. 2006b. Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Geschichte der Gouvernementalität I, Bd. 1808. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Grupa Granica. 2021. Humanitarian crisis at the Polish-Belarusian border. https://grupagranica.pl/report.
Hess, Sabine, Bernd Kasparek und Maria Schwertl. 2018. Regime ist nicht Regime ist nicht Regime. Zum theoriepolitischen Einsatz der ethnografischen (Grenz-)Regimeanalyse. In: Was ist ein Migrationsregime? What Is a Migration Regime?, Hrsg. Andreas Pott, Christoph Rass und Frank Wolff, 257–283. Wiesbaden: Springer VS.
Honneth, Axel. 1983. Kritik der Macht. Reflexionsstufen einer kritischen Gesellschaftstheorie, Bd. 738. Frankfurt/M.: Suhrkamp.
Karakayali, Serhat. 2008. Gespenster der Migration. Zur Genealogie illegaler Einwanderung in der Bundesrepublik Deutschland. Bielefeld: transcript.
Koalitionsvertrag. 2021. Mehr Fortschritt wagen. Bündnis für Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit. SPD, Bündnis 90 / Die Grünen und FDP.
Lemke, Thomas. 1997. Eine Kritik der politischen Vernunft. Foucaults Analyse der modernen Gouvernementalität. Hamburg: Argument-Verl.
Lemke, Thomas. 2021. The government of things. Foucault and the new materialisms. New York: New York University Press.
Link, Jürgen. 1997. Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
Marchart, Oliver. 2013. Das unmögliche Objekt. Eine postfundamentalistische Theorie der Gesellschaft, Bd. 2055. Berlin: Suhrkamp.
Mayblin, Lucy, und Joe Turner. 2020. Migration Studies and Colonialism. Cambridge: Polity Press.
Mecheril, Paul, Oscar Thomas-Olalde, Claus Melter, Susanne Arens und Elisabeth Romaner. 2013. Migrationsforschung als Kritik? Erkundungen eines epistemischen Anliegens in 57 Schritten. In: Migrationsforschung als Kritik? Konturen einer Forschungsperspektive, Hrsg. Paul Mecheril, Oscar Thomas-Olalde, Claus Melter, Susanne Arens und Elisabeth Romaner, 7–55. Wiesbaden: Springer VS.
Minca, Claudio, Alexandra Rijke, Polly Pallister-Wilkins, Martina Tazzioli, Darshan Vigneswaran, Henk van Houtum und Annelies van Uden. 2021. Rethinking the biopolitical: Borders, refugees, mobilities … Environment and Planning C: Politics and Space:239965442098138.
Reckwitz, Andreas. 2021. Gesellschaftstheorie als Werkzeug. In: Spätmoderne in der Krise. Was leistet die Gesellschaftstheorie?, Hrsg. Andreas Reckwitz und Hartmut Rosa, 23–150. Berlin: Suhrkamp.
Reinprecht, Christoph, und Rossalina Latcheva. 2016. Migration: Was wir nicht wissen. Perspektiven auf Forschungslücken. Österreichische Zeitschrift für Soziologie 41:1–13.
Revel, Judith. 2019. Not Fostering Life, and Leaving to Die. In: Foucault, neoliberalism, and beyond, Hrsg. Stephen W. Sawyer und Daniel Steinmetz-Jenkins, 181–188. London: Rowman & Littlefield.
Rogers, Christina. 2015. Wenn Data stirbt. Grenzen, Kontrolle und Migration. Zeitschrift für Medienwissenschaft 7:57–65.
Saar, Martin. 2007. Genealogie als Kritik. Geschichte und Theorie des Subjekts nach Nietzsche und Foucault. Vollst. zugl.: Frankfurt/Main, Univ., Diss., 2004 u.d.T.: Saar, Martin: Selbst-Kritik, Bd. 59. Frankfurt/Main, New York: Campus-Verl.
Schinkel, Willem. 2018. Against ‘immigrant integration’: for an end to neocolonial knowledge production. Comparative Migration Studies 6:31.
Schwiertz, Helge. 2019. Migration und radikale Demokratie. Politische Selbstorganisierung von migrantischen Jugendlichen in Deutschland und den USA. Bielefeld: transcript.
Schwiertz, Helge. i.E. Artikulation und Re-Fundierung als Praktiken der Theorie(um)bildung. In: Die Praxis soziologischer Theoriebildung, Hrsg. Fabian Anicker und André Armbruster. Wiesbaden: Springer VS.
Stäheli, Urs, und Ute Tellmann. 2002. Foucault – ein Theoretiker der Moderne? In: Theorien der Gesellschaft. Einführung in zentrale Paradigmen der soziologischen Gegenwartsanalyse, Hrsg. Christian Lahusen und Carsten Stark, 237–265. München: Oldenbourg Wissenschaftsverlag.
Steyerl, Hito, und Encarnación Gutiérrez Rodríguez, Hrsg. 2003. Spricht die Subalterne deutsch? Migration und postkoloniale Kritik. 1. Aufl. Münster: Unrast.
Stielike, Laura. 2017. Entwicklung durch Migration? Eine postkoloniale Dispositivanalyse am Beispiel Kamerun–Deutschland. Bielefeld: transcript.
Stierl, Maurice. 2018. Migrant resistance in contemporary Europe. Abingdon, Oxon, New York, NY: Routledge.
Terkessidis, Mark. 2004. Die Banalität des Rassismus. Migranten zweiter Generation entwickeln eine neue Perspektive. Bielefeld: transcript.
Tsianos, Vassilis, und Sabine Hess. 2010. Ethnographische Grenzregimeanalyse. Eine Methodologie der Autonomie der Migration. In: Grenzregime. Diskurse, Praktiken, Institutionen in Europa, Hrsg. Sabine Hess und Bernd Kasparek, 243–264. Berlin: Assoziation A.
Downloads
Veröffentlicht
Ausgabe
Rubrik
Lizenz
Copyright (c) 2023 Polarisierte Welten. Verhandlungen des 41. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie 2022
Dieses Werk steht unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung - Nicht-kommerziell 4.0 International.
Beiträge im Verhandlungsband des 41. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Bielefeld werden unter der Creative Commons Lizenz "Namensnennung-Nicht kommerziell 4.0 International (CC BY-NC 4.0)" veröffentlicht.
Dritte dürfen die Beiträge:
-
Teilen: in jedwedem Format oder Medium vervielfältigen und weiterverbreiten
-
Bearbeiten: remixen, verändern und darauf aufbauen
unter folgenden Bedingungen:
-
Namensnennung: Dritte müssen angemessene Urheber- und Rechteangaben machen, einen Link zur Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden
-
Nicht kommerziell: Dritte dürfen das Material nicht für kommerzielle Zwecke nutzen