Antagonistisch verbunden
Eine symbolisch-interaktionistische Theorie von Polarisierungsprozessen
Keywords:
Polarisierung, Bewegungstheorie, Herbert Blumer, Konflikttheorie, Symbolischer InteraktionismusAbstract
Das Konzept der Polarisierung spielt in der sozialwissenschaftlichen Konflikttheorie und Konfliktforschung eine tragende Rolle. Nur wenige Ansätze bieten dabei allerdings eine systematische Verbindung zu allgemeineren Kategorien oder betten das Konzept gar – direkt oder vermittelt über Middle-Range-Theorien – in eine umfassende Sozialtheorie ein. Entsprechend bleibt das Konzept unterbestimmt und seine Verbindung zu anderen sozialtheoretischen Kategorien unklar. Eine seltene Ausnahme stellt hier Herbert Blumer dar: Zwar beschäftigt er sich nur in einem einzigen Aufsatz mit Polarisierung, und auch da nicht als Hauptthema, sondern als Teil der Analyse von Protestbewegungen. Doch eben dadurch ist das Konzept in eine Bewegungstheorie eingebettet, die zugleich als Konflikttheorie einschließlich einer Theorie der Konflikteskalation gelesen werden kann. Vermittelt über diese Bewegungstheorie, aber teils auch direkt, ist es wiederum in Blumers symbolisch-interaktionistische Sozialtheorie eingebettet. Blumer konzipiert Polarisierung als einen Prozess, in dem soziale Gruppen unvereinbare „Welten“ entwickeln. Diese Entwicklung ist nicht einfach nur ein Differenzierungsprozess hin zu einer pluralisierten (oder fragmentierten) Gesellschaft geschuldet, in der unterschiedliche soziale Gruppen kaum direkt miteinander interagieren und derart in wenig miteinander verbundenen Welten leben. Vielmehr entstehen diese verschiedenen Welten gerade in der und durch die direkte Bezogenheit der Gruppen aufeinander: Sie sind Folge ihrer intensiven, aber antagonistischen Interaktion miteinander, durch die entsprechend unvereinbare Bedeutungen auf unterschiedlichen Ebenen entstehen – welche wiederum zur Grundlage erneuter konflikthafter Interaktion zwischen den Akteuren werden. So macht Blumers Konzept zum einen die empirisch beobachtbare Tendenz zu einer immer weiteren Steigerung der Polarisierung sozialtheoretisch erklärbar, und zum anderen wird das inhärent relationale Konzept der Polarisierung sozialtheoretisch relational fundiert.
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