Editorial

Autor/innen

  • Georg Vobruba

Abstract

Eigentlich,

liebe Kolleginnen und Kollegen, ist es zum Verzweifeln.

Da werden aufwändige Längsschnittdatensätze generiert. Es werden dafür neue Methoden entwickelt. Große, produktive Forschungszusammenhänge sind entstanden. Rund zwanzig Jahre Forschung zur Armutsdynamik, zu den Übergängen zwischen Arbeitslosigkeit und Beschäftigung, zum Problem des Lohnabstands, der Armutsfalle, des Missbrauchs liegen hinter uns. Unzählige Publikationen (durchaus auch leicht verständliche) dazu liegen vor. Und dennoch kommen, Welle auf Welle, die immergleichen politischen Debatten über unzureichende Arbeitsanreize, die Ausbeutung der Arbeitenden durch die Sozialleistungsbezieher, soziale Hängematten, faule Arbeitslose.

Ich will keinem Politiker, der sich mit solchen Stichworten hervor tut, böse Absichten unterstellen. Es ist in Wahrheit wohl noch schlimmer: Die meisten glauben, was sie da sagen. Warum ist das noch schlimmer? Geht man von bösem Willen aus, unterstellt man zugleich, dass sie es tatsächlich besser wissen. Damit kann man umgehen. Über unredliche statements kann man sich moralisch empören, zugleich aber kann man sich auf Basis des dahinter stehenden besseren Wissens irgendwie augenzwinkernd verständigen.

Aber unabhängig davon, ob sie es nicht besser wissen oder nicht wissen wollen, Tatsache ist, dass die durchschnittliche Verweildauer und die Bemühungen um Wiederbeschäftigung dagegen sprechen, dass die Leute freiwillig in Sozialtransferbezug bleiben; dass der Lohnabstand in den meisten Fällen sehr erheblich ist; dass gerade in den Fällen, in denen der Lohnabstand gering ist (ungelernte Arbeitskräfte mit Familien mit mehreren Kindern), die Verweildauern in Sozialtransferbezug besonders kurz sind; dass die Sanktionspraxis der Arbeitsagenturen ohnehin streng ist (und in vielen Fällen der gerichtlichen Überprüfung nicht stand hält); und dass schließlich angesichts eines krassen Überangebots an Arbeitskraft die wenigen freiwillig Arbeitslosen nicht die Arbeitslosenzahl erhöhen, sondern unfreiwillig Arbeitslosen Platz machen, also die Substitution von unfreiwilliger durch freiwillige Arbeitslosigkeit bewirken.

Übrigens, wie (arbeits-)moralisch kaputt muss man sein, um die Grundsicherung für Arbeitssuchende in ihrer gegenwärtigen Höhe als Einladung zu einem Leben ohne Arbeit anzusehen?

Verzweifeln kann man über die Resistenz der Politik gegen sozialwissenschaftliche Erkenntnisse, weil dagegen nichts zu machen ist. Die soziologische Forschung folgt Aufmerksamkeitszyklen, die zwar von Problemen der gesellschaftlichen Umwelt der Forschung mit bestimmt werden, die aber ebenso einer eigenen, internen Logik folgen. Man kann auch einfach sagen: Forschung muss für die Forschenden interessant sein. Das bedeutet, dass ein Thema nach einer gewissen Zeit einfach »durch« ist. Das meiste dazu ist dann gesagt, es ergeben sich kaum mehr neue Gesichtspunkte, man will und soll – nach Maßstäben von Forschung – etwas Anderes, Neues machen.

Politik tickt anders. Zum politischen Geschäft gehört, sich auf die eigene Klientel zu konzentrieren und deren Weltbild- und Vorurteilsstrukturen zu bedienen, vom eigenen Standpunkt abweichende Einsichten nicht als besseres Wissen, sondern prinzipiell als zu bekämpfende Ansichten zu nehmen; also nicht entlang dem Code wahr oder falsch, sondern wir oder sie zu diskutieren. Darum kann man politisch immer wieder ein und denselben Standpunkt vertreten (vielleicht gar noch unter rufmörderischer Bezugnahme auf Max Webers dictum von den dicken Brettern).

Was tun? Erstens: auf gar keinen Fall ganz verzweifeln. Zweitens: Soziologische Problemstellungen werden in gewissen Rhythmen immer wieder entdeckt. Das mag mit der Abfolge von Forschergenerationen zu tun haben und kann jedenfalls dazu führen, dass ein neuer Schub an Einsichten in den Komplex Arbeit/Armut entsteht. Drittens: Man kann selbst zum Thema machen, warum Politik durch soziologische Forschung nur so wenig irritierbar ist. Damit gerät die Eigenlogik der politischen Diskurse zu Arbeitslosigkeit, Missbrauch etc. unter soziologische Beobachtung. Welche Bedingungen machen das Auftreten solcher Diskussionen wahrscheinlich? Es ginge also darum, an den Missbrauchsdiskurs nicht die Frage nach Einstellungen der Arbeitslosen und Armutsgefährdeten, sondern die Frage nach dem Zustand von Ökonomie und Politik anknüpfen.

Bitte sehen Sie mir nach, dass dieses Editorial auch in eigener (Forschungs-)sache ausgefallen ist.

Ihr

Georg Vobruba

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Veröffentlicht

2016-08-18

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