Editorial

Autor/innen

  • Georg Vobruba

Abstract

Über Vorratshaltung,
liebe Kolleginnen und Kollegen,
wollte ich eigentlich nicht schreiben. Obwohl: Vorratshaltung ist ein faszinierendes soziales Phänomen. Ich kann mir eine groß angelegte Untersuchung dazu vorstellen. Sie beginnt mit der Rekonstruktion der Wechselwirkungen von traditionalen Techniken der Konservierung von Lebensmitteln und Gesellschaftsentwicklung: der Lagerung von Obst (sog. Winteräpfel), dem Trocknen von Pilzen, der Produktion von lang haltbaren Getränken (Alkohol), dem Trocknen, Einsalzen oder Räuchern von Fleisch, Einlegen von Gemüse (Sauerkraut, saure Gurken etc.). Seit wann gibt es das? Gab es vor Ackerbau- und Viehhaltergesellschaften schon Konservierungstechniken? Haben solche Techniken vielleicht selbst einen Anteil an deren Entwicklung? Und welche Folgeprobleme entstanden daraus? Welche Techniken der Vorratshaltung für das Futter von Nutztieren entwickelten sich?
All diese Versionen der Vorratshaltung sind als traditionale Formen der Zukunftsbewirtschaftung zu verstehen. Im Kern handelt es sich dabei um Nullsummenspiele zwischen Gegenwart und Zukunft, und um die Bewältigung der sich daraus ergebenden Probleme: Verzicht auf Gegenwartskonsum; Entwicklung eines – wenn auch beschränkten – Zukunftshorizonts; Erfassung von Vorratsmengen; Verteidigung des Vorrats. Insbesondere die Zusammenhänge (Wechselwirkungen?) zwischen der Entwicklung von Techniken der Vorratshaltung und der Evolution des Zukunftsverständnisses dürften interessant sein. Es liegt auf der Hand, dass mit der Erweiterung von Zukunftshorizonten der Bedarf an Vorratshaltung zunimmt, und dass ebenso Fortschritte in der Vorratshaltung Denken und Handeln in weiteren Zukunftshorizonten ermöglichen. Dies lässt sich am Beispiel der großen Entdeckungsreisen (Columbus, Vasco da Gama etc.) zeigen. Einerseits setzten Absicht und Planung zu solchen Reisen ein Denken in erweiterten Zeithorizonten voraus. Andererseits ergaben sich aus praktischen Problemen während dieser Reisen (Skorbut) starke Anreize, Vorratstechniken weiter zu entwickeln.
Im modernen Zeitverständnis wird Zukunft als gestaltbar und riskant erfahren, und ihre Beherrschung zu einem kollektiven Problem. Damit wird Zukunftsvorsorge auf eine bis dahin unentwickelte Makroebene gehoben und institutionenabhängig. Soziale Sicherheit erfordert eine langfristig funktionierende Sozialpolitik, Sparen das politische Management der Stabilität des Geldwerts. In den letzten Jahrzehnten wurde Zukunftsvorsorge mehr und mehr an Entwicklungen des Finanzmarkts gebunden, deren Resultate sie nicht regulieren kann, für die sie aber doch einstehen muss. Eine produktive politische Idiotie, möglicherweise. Denn: Wenn Politik ihre Zuständigkeit für institutionalisierte Zukunftsvorsorge nicht abschütteln kann, bleibt ihr nur transnationale Finanzmarktregulierung. Vorratshaltung wird damit nicht obsolet, ändert aber ihren Stellenwert. Sie wird sozusagen in die Privatheit abgedrängt.
Eine Revolution in der Vorratshaltung bedeutet der Kühlschrank. Er verändert die Lebensmittelproduktion, das Einkaufsverhalten, das Tradieren von Kochrezepten, die Arbeit im Haushalt, Essgewohnheiten. (Wie sah die Versorgung mit Frischmilch davor aus? Ich kann mich daran erinnern.)  

Eigentlich wollte ich über den Krieg schreiben. Europa ist gegenwärtig von erklärten und nicht erklärten Kriegen umzingelt. Die Kriege nehmen neue Formen an, folgen unkonventionellen territorialen Logiken, verfolgen z. T. äußerst schwierig rekonstruierbare Zwecke. Dann wollte ich erwähnen,  dass sich daraus eine Außenperspektive auf die Europäische Union ergibt, die in scharfem Kontrast zu ihren Selbstzweifeln steht. Der Historiker Christopher Clark hat anlässlich der Eröffnung der Salzburger Festspiele 2014 dazu eine bemerkenswerte Rede gehalten. Und schließlich wollte ich schreiben, dass die Soziologie sich der gegenwärtigen Kriege und kriegsähnlichen Prozesse viel entschiedener annehmen sollte; und ich wollte hinzufügen, dass mir klar ist, dass die Soziologie nichts Zukünftiges beforschen kann, dass sich soziologisch erst dann empirisch forschen lässt, wenn etwas passiert ist. Dass die Soziologie angesichts neuer Phänomene auf keinen Vorrat an empirischem Wissen zurückgreifen kann. Aber man sollte Theorieentwicklung so betreiben, dass man in die Lage versetzt wird, sich auf Neues rasch einzustellen. In diesem Sinn also: Soziologische Theoriediskussion als Bildung eines Vorrats.

Ihr

Georg Vobruba

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Veröffentlicht

2014-10-01

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