Editorial
Abstract
200 Millionen Euro,
liebe Kolleginnen und Kollegen,
könnte die Bundesrepublik angeblich sparen, würde sie dem Beispiel Großbritanniens folgen: Absenken des Kindergeldes für EU-Ausländer auf das Niveau ihres Heimatlandes, sofern deren Kinder dort leben. Was hätte sich aus der Sicht der Soziologie der Sozialpolitik dazu sagen lassen? Viel.
Dass man die Zahlungen des höheren Kindergeldes als einen impliziten Sozialtransfer von reichen in arme EU-Mitgliedsländer ansehen kann; dass dies ein sehr bescheidener Ansatz zu einem transnationalen Finanzausgleich ist, und dass diese Gelder vermutlich die richtigen Adressaten erreichen.
Dass es sich um eine verdeckte Subvention der Löhne von EU-Arbeitskräften in Deutschland handelt, von der einheimische Unternehmen und Konsumenten profitieren.
Dass Aufstocker-Hartz IV-Bezug samt Kindergeld für im EU-Ausland lebende Kinder Verabredungen von (inländischen) Arbeitsgebern und (EU-ausländischen) Arbeitnehmern zu Lasten des Sozialstaats begünstigt.
Dass die radikale Kürzung des Kindergeldes für EU-Ausländer im In- und im Ausland problematische Folgen haben könnte. Im EU-Ausland: Einkommensausfälle bei den daheimgebliebenen Familien. Im Inland: Entweder den Nachzug von Familien oder den Rückzug von EU-Ausländern vom inländischen Arbeitsmarkt. Ersteres verbunden mit Kosten für das System sozialer Sicherung, letzteres mit Kosten für Unternehmen und Konsumenten.
Dass über jede weiter gehende Europäisierung der Sozialpolitik schweigen sollte, wer nicht einmal in der Lage ist, die Mehrdeutigkeiten der Wirkungen solcher Transfers in Forschungsfragen zu packen.
Und was hat man aus der Soziologie dazu gelesen/gehört? Nichts. Ich erwähne das nicht, um einen Vorwurf zu formulieren, sondern um auf ein systematisches Problem aufmerksam zu machen. Als diese Kürzungsphantasien gegen Ende Februar 2016 im Zusammenhang mit dem Brexit durch die Medien geisterten, hätte es eines Vorrats an Argumenten bedurft, um rasch zu reagieren. Ein Vorrat an Argumenten bedeutet: eine Theorie, die einerseits ausreichend spezifisch ist, um wahrscheinliche Folgen zu benennen, und andererseits ausreichend allgemein, um sich auf ein neues Thema einstellen zu können. Also: Theorie als Argumentationsvorrat. Leider hat die Soziologie der Sozialpolitik diesbezüglich nicht allzu viel zu bieten. Das liegt daran, dass sie in erster Linie an der Erhebung von Missständen interessiert ist. Sozialpolitische Versorgungslücken infolge der Entstandardisierung der Erwerbsarbeit, geschlechtsspezifische Benachteiligungen im System sozialer Sicherung, Armut als Folge instabiler Familien etc. Probleme werden in ihrer Genese erklärt, präzise beschrieben – und dies wird als Aufforderung zu sozialpolitischer Intervention verstanden. Und da diese Aufforderung leider oft ins Leere geht, wird an Variationen derselben Probleme weiter geforscht; und weiter geforscht.
Neben dieser Forschung führt die zweite Kategorie sozialpolitischer Fragestellungen ein Schattendasein: Welche Folgen hat Sozialpolitik? Die Antworten bleiben immer noch weitgehend der Ökonomie und den Stammtischen überlassen. Sozialpolitik fördert Faulheit, setzt falsche Anreize, behindert individuelle Vorsorge, schwächt die Wettbewerbsfähigkeit.
Die übliche Leier. Zu selten wird gesehen, dass diese falschen Antworten eine wichtige Fragerichtung markieren. Es geht um Effekte von sozialer Sicherung, die über die Milderung sozialpolitischer Problemlagen für die Betroffenen hinaus gehen, um Effekte, die den unmittelbaren sozialpolitischen Zweck von Sozialpolitik transzendieren.
Eine soziologische Theorie der Sozialpolitik muss so konstruiert sein, dass sie Fragemöglichkeiten nach beiden Seiten verbindet. Zum einen geht es um die Frage, wodurch Sozialpolitik bewirkt wird. Dabei ist in Rechnung zu stellen, dass soziale Probleme ein mögliches Ursachenbündel für Sozialpolitik sind, aber bei weitem nicht das einzige. Und zum anderen ist zu fragen, was Sozialpolitik bewirkt. Dabei wird man die Möglichkeit berücksichtigen müssen, dass Sozialpolitik auf sozialpolitische Problemlagen wirkt, aber auch weit darüber hinaus. Das bedeutet mit Blick auf das eingangs erwähnte Beispiel, nicht nur den unmittelbaren Entlastungseffekt zu sehen (und ihn als wünschenswert oder verwerflich auszuzeichnen), sondern auch nach weiter reichenden Folgen restriktiver Kindergeldregeln in der EU zu fragen. Selbstverständlich hat eine soziologische Theorie der Sozialpolitik nicht Antworten auf alle sozialpolitischen Fragen parat. Aber sie kann die soziologische Aufmerksamkeit so strukturieren, dass die projektförmige Sozialpolitikforschung noch relevanter wird, und dass man von Tagesaktualitäten weniger leicht überrumpelt wird.
Ihr
Georg Vobruba