Editorial

Autor/innen

  • Dirk Baecker

Abstract

Liebe Kolleginnen und Kollegen,
mit diesem Heft feiert das Mitteilungsblatt der Deutschen Gesellschaft für Soziologie seinen 50. Jahrgang. Wir haben mit Rüdiger Lautmann, Johannes Weiß und seinem seinerzeitigen Mitarbeiter Thomas Schwietring, Georg Vobruba und Sina Farzin frühere Herausgeber und eine frühere Herausgeberin zu einem Gespräch darüber eingeladen, wie sie die Entwicklung der Zeitschrift begleitet und beobachtet haben und wie sie sich die weitere Entwicklung vorstellen.

Will man den Stil der Berichte und Artikel in dieser Zeitschrift in den vergangenen 50 Jahren kennzeichnen, eignet sich vielleicht am ehesten das Stichwort der Vorsicht. Wir wissen um die streitbaren Gemüter in unserem Fach. Wir wissen auch um die Auseinandersetzungen, die zwischen Schulen, Theorien und Methoden ausgetragen werden. Und dennoch gibt es einen typisch soziologischen Tonfall, in dem der Komplexität jedes beliebigen Sachverhalts Rechnung getragen wird. In fast jedem Beitrag laufen abweichende Positionen mit und wird die eigene Position in Klammern gesetzt. Man schreibt – und rechnet bereits mit einem anschließenden Text, in dem derselbe Sachverhalt anders dargestellt werden kann. Dabei geht es nicht nur um das Bewusstsein der Vorläufigkeit jeder wissenschaftlichen Erkenntnis. Es geht nicht einmal nur um die Würdigung der Multiperspektivität in jeder Auseinandersetzung. Sondern es geht darum, diese Multiperspektivität als ein gefährdetes Gut und daher auch als eines der wichtigsten Produkte jeder Auseinandersetzung zu begreifen und zu pflegen. Es ist, als würde der Beitrag der Soziologie zur Beschreibung nicht nur manifester, sondern auch latenter Strukturen der Gesellschaft auf diese selbst abfärben. Dass man nie so genau weiß, worauf man hinauswill, ist selbst ein Charakteristikum guter Soziologie. Interessanterweise schadet dies nicht der Schärfe des Arguments, sondern trägt zu ihr bei.
Mit einem von Hubert Knoblauch angeregten Symposion setzen wir in diesem Heft die Diskussion über neue Möglichkeiten der Gestaltung einer Forschungsdateninfrastruktur fort. Die Digitalisierung rückt neue Standards der Herstellung, Berechnung, Archivierung und Bereitstellung von Daten in Reichweite. Verfahren eines schützenden Umgangs mit Daten, die für quantitative Daten selbstverständlich sind, müssen für qualitative Daten neu überprüft werden. Selten war die Artifizialität eines wichtigen Produkts wissenschaftlicher Arbeit, das doch zugleich Objektivität verbürgen soll, so deutlich. Niemand weiß, wer demnächst welche Algorithmen über welche Datenbestände laufen lassen kann. Wie kann man an der Kontextgebundenheit von Daten festhalten, wenn ihre wichtigste Leistung darin besteht, von Kontexten zu abstrahieren? Aus der Organisationsforschung weiß man, dass Infrastrukturen alles andere als unschuldige Voraussetzungen einer mit ihnen bereits um wesentliche Freiheitsgrade beraubten, aber so erst möglichen Forschung sind.
Selbstreflexion ist der rote Faden des vorliegenden Hefts. Dazu passen der Fund im Keller der Universität Bielefeld, über den Ramy Youssef berichtet, und der Bericht über den Kongress der Österreichischen und Deutschen Gesellschaft für Soziologie, für den Frank Welz zu danken ist. Der Kongress in Wien im August dieses Jahres war ein eindrückliches Beispiel dafür, mit welcher Vorsicht und Entschlossenheit sich die Soziologie ungewohnten Herausforderungen stellt, sei es die virale Herausforderung der Gesellschaft oder die Auseinandersetzung mit der eigenen kolonialen, wenn nicht sogar »rassistischen« (Jesse Souza) Vergangenheit und Gegenwart. Nicht nur in ihrem Gegenstand, sondern auch im eigenen Fach stößt die Soziologie auf »Abhängigkeitsverleugnungsleistungen« (Katharina Hoppe). In der Auseinandersetzung mit dem Virus wird die Soziologie ökologisch. Sie begreift die Symbiosen, in denen sich das Leben der Menschen abspielt. Sie begreift die Strukturen der Gesellschaft als Formen der Produktion von Ignoranz. Und sie sucht jenseits des Buches und des Fachartikels nach »Theorieformaten« (Annemarie Mol), in denen die ökologische Reflexion im und mit dem Gegenstand der Soziologie geübt werden kann.

Nicht zuletzt ist mit diesem Jubiläumsheft Sylke Nissen und Karin Lange zu danken. Seit 2003 beziehungsweise 2011 liegt die Redaktion des Forums SOZIOLOGIE in ihren in jeder Hinsicht verlässlichen Händen.
Mit herzlichen Grüßen
Dirk Baecker

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Veröffentlicht

2021-10-01