Editorial

Autor/innen

  • Georg Vobruba

Abstract

»Der Skandal fängt an«,
liebe Kolleginnen und Kollegen,
»wenn die Polizei ihm ein Ende bereitet«« (Karl Kraus) Beziehungsweise: … zu bereiten versucht. Im Sommer 2015 ersuchte die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) das Bundesinnenministerium, die Bundeszentrale für politische Bildung anzuweisen, den Band »Ökonomie und Gesellschaft – Zwölf Bausteine für die schulische und außerschulische politische Bildung« aus dem Verkehr zu ziehen. Das Innenministerium untersagte der Bundeszentrale den weiteren Vertrieb des Bandes mit der Begründung, in einem der darin enthaltenen Beiträge werde die Lobby-Arbeit von Wirtschaftsverbänden einseitig negativ dargestellt. Laut homepage der Bundeszentrale war der Band darauf hin »vergriffen«.

Ein soziologisches Ärgernis an diesem Fall ist, dass er genau den schlichten Vorstellungen der Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus über das Verhältnis zwischen Kapital und Staat entspricht. Der Staat als »geschäftsführender Ausschuss der herrschenden Klasse« oder so ähnlich. Dagegen kann man aus verbändesoziologischer Sicht daran erinnern, dass die Sicht auf Verbände als Störfaktoren demokratischer Politik längst als überwunden gilt, dass in komplexen kapitalistisch-demokratischen Gesellschaften politische Mit-Steuerung durch Verbände keineswegs immer etwas Schlechtes sein muss, und Lobbyismus Politik darüber informiert, welche Folgen sie haben kann und mit welchem Widerstand sie rechnen muss. Das kann nützlich ein. Im vorliegenden Fall freilich ist – mit einem gewissen Amüsement – festzuhalten, dass durch Lobbying gegen einen kritischen Text über Lobbying der Inhalt des Textes eindrucksvoll bestätigt wird.

Der Protest (unter anderem des Vorstands der DGS), der sich erhob, und ein breites Medienecho führten dazu, dass das Vertriebsverbot wieder aufgehoben wurde. Der Band kann für 7 Euro bei der Bundeszentrale bezogen werden. All das findet man genau dokumentiert unter der Adresse:
www.iboeb.org.

Mir geht es hier um den Vorwurf, der im Zusammenhang mit diesem Skandal zu hören war: Zensur! Er kam unter anderem von LobbyControl, aus dem Vorstand des DGB und abgeschwächt in »Die Welt«. Die Empörung kann ich verstehen, aber mit dem Zensur-Vorwurf sollte man vorsichtig umgehen. Die Intervention der BDA ist politisch unredlich und ungeschickt. Dem Innenministerium ist vorzuwerfen, dass es die Intervention eins zu eins umsetzt. Dem Grundrecht, »sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten« (Art 5(1) GG), ist das keineswegs förderlich. Aber ist es Zensur? Erstens ist festzuhalten, dass das Vertriebsverbot des Innenministeriums nicht bewirkt, dass die Äußerung und Verbreitung der inkriminierten Inhalte tatsächlich unterbunden werden. Eine – freilich teurere – Verlagsversion des Bandes wäre wohl jederzeit machbar.
Zensur im Sinne des Grundgesetzes läge vor, wenn für den Text der einzige Weg an die Öffentlichkeit über die Bundeszentrale für politische Bildung führte. Und zweitens ist zu bedenken, für welchen Zweck der Text bestimmt ist. Es handelt sich um ein Lehrmittel. Und es liegt im Wesen pädagogischer Konstellationen, dass Lesetexte von Jugendlichen als Schülerinnen und Schüler nicht frei gewählt, sondern von Lehrerinnen und Lehrer gefiltert und vermittelt werden. In diesem Sinne bleiben Schülerinnen und Schülern laufend unzählige Texte vorenthalten, die jedoch als Informationsquellen außerhalb der pädagogischen Konstellation für sie zugänglich sind. Darum geht der Vorwurf der Zensur ins Leere.

Die Empfänglichkeit des Innenministeriums für die Intervention der BDA ist also nicht Zensur, sie ist aber ein Skandal. Das ist, aus heutiger Sicht, kein Werturteil, sondern eine Tatsachenfeststellung. Die breite Aufmerksamkeit, die der Band nun findet, ist auch der BDA und dem Innenministerium zu verdanken. Die BDA-Intervention hat mit ihrem Scheitern das Gegenteil dessen bewirkt, was sie beabsichtigte. Das entspricht dem, was Karl Kraus gemeint hat. Vermutlich hat der Zensur-Vorwurf, der in zahlreichen Wortmeldungen mitschwang, dazu beigetragen, dass der Fall so intensiv skandalisiert wurde. Dennoch: Zensur ist eine viel zu ernste Angelegenheit, als dass man eine derart unbeholfene Aktion so nennen sollte. Denn solche dramatisierenden Begriffsverwendungen bergen die Gefahr einer diskursiven Selbstenteignung: Wenn es jemals wirklich ernst werden sollte, hat man kein politisch brauchbares Vokabular mehr.

Ihr
Georg Vobruba

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Veröffentlicht

2016-01-01