Soziologische Selbstunterscheidungen in der Moderne

Eine soziologische Begriffsgeschichte historischer Zeiten

Autor/innen

  • Gerhard Preyer

Schlagworte:

Theorie der Moderne, Begriffsgeschichte, Geschichte der Soziologie, Ferdinand Tönnies, Gesellschaftstheorie, Niklas Luhmann, Jürgen Habermas, Richard Münch, Frankfurter Soziologie

Abstract

Weder Emil Durkheim noch Max Weber haben eine voll entwickelte Theorie der Moderne vorgelegt. Zu einem systematischen Begriff der soziologischen Theorie wird Moderne und Modernisierung erst in der Soziologie Talcott Parsons. Die Begriffsgeschichte von Moderne hat deshalb eine besondere Relevanz, da sie für die Geschichte der Soziologie in systematischer Absicht lehrreich ist. Am nächsten kommt dem Begriff der Moderne (Neuzeit) in der Analyse der Entstehung der modernen Gesellschaften noch Ferdinand Tönnies.
Das gilt auch für das Forschungsprogramm der Gesellschaftstheorie, die auf Lorenz von Stein zurückgeht. Tönnies ist im Hinblick auf dieses Forschungsprogramm noch einmal zu erwähnen, da er an einer Gesellschaftslehre orientiert war. Niklas Luhmann ist der erste Soziologe, der eine Gesellschaftstheorie in verschiedenen Versionen vorlegt. Historisch betrachtet kommt Tönnies diesem Forschungsprogramm am nächsten. Diese theoretische Orientierung liegt auch bei Jürgen Habermas und Richard Münch vor. Eine Gesellschaftstheorie ist dadurch zu charakterisieren, dass sie gegenüber Handlungs-, Kommunikations-, Interaktions- und Organisationstheorien einen eigenständigen analytischen Bezugsrahmen konstruiert und Gesellschaft als eine emergierte Ebene von Handlungen und Kommunikationen einstuft.
Vor allem die Frankfurter Soziologie wird immer wieder falsch dargestellt. Diesbezüglich sind grundsätzliche Korrekturen vorzunehmen, da sie bis in die Gegenwart durch unterschiedliche soziologische Richtungen zu charakterisieren ist, die sich an die einzelnen Fachvertreter richten.

 

Neither Emil Durkheim nor Max Weber has developed a mature theory of modernity. A systematic concept of modernity and modernization was first elaborated in the sociology of Talcott Parsons. The history of concepts of modernity has a particular relevance because research about it is instructive for the history of sociology with a systematic claim. Ferdinand Tönnies comes close to a systematization of the development of modern society with his concept of modern times (Neuzeit).
This is also valid for the research program of the theory of society (Gesellschaftslehre). It goes back to Lorenz von Stein. Niklas Luhmann was the first sociologist to develop a theory of society in different versions. But regarding this orientation Tönnies is to mention again because his sociology comes close to a theory of society. Jürgen Habermas and Richard Münch also approach the theory of society which can be characterized by constructing an analytical frame of reference and defining society as an emergent level of actions and communications.
The »Frankfurt Sociology« in particular has been misrepresented again and again. Thus corrections are required in order to characterize the Frankfurt Sociology by its is several different directions.

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Veröffentlicht

2017-07-01