Was heißt eigentlich Krise?

Authors

  • Joris Steg

Keywords:

Krise

Abstract

Die Soziologie hat sich historisch als Krisenwissenschaft konstituiert und etabliert. Krisen stellen seit jeher ein zentrales Forschungsfeld der Soziologie dar. Krise ist eine soziologische Schlüsselkategorie, die Identität und Selbstverständnis der Disziplin nachhaltig geprägt hat. Mittlerweile wird der Krisenbegriff in Wissenschaft und Alltag nahezu inflationär verwendet, ohne dass eine allseits anerkannte Definition oder ein allgemeingültiges Verständnis über Ursachen, Verläufe und Folgen von Krisen existieren. Auch in der Soziologie hat sich bislang keine einheitliche Definition von Krise herausbilden können. Der vorliegende Beitrag befasst sich mit der Frage, was Krise eigentlich heißt, sowie mit der Bedeutung und dem Stellenwert des Begriffs Krise innerhalb der Soziologie. Es wird dagegen argumentiert, Krisen als Normalität oder als Gesellschaft selbst aufzufassen, weil Krisen auf diese Weise bagatellisiert werden. Stattdessen wird dafür plädiert, dass die Soziologie sich wieder auf ihre Rolle und Funktion als Krisenwissenschaft rückbesinnt und einen Krisenbegriff verwendet, der sich ausschließlich auf gesamtgesellschaftlich relevante Phänomene bezieht und darüber hinaus ausschließlich für kritische, potenziell bestandsgefährdende Abweichungen von der Normalität gilt.


Sociology has historically been constituted and established as science of crisis. Crises have always been a central research field in sociology. Crisis is a key sociological category that had a lasting impact on the identity and self-conception of the discipline. Meanwhile the concept of crisis is used almost in an inflationary way in science and everyday life, without a universally accepted definition or a generally admitted understanding of the causes, courses and consequences of crises. So far, no consistent definition of crisis has emerged in sociology either. This article deals with the question of what crisis actually means and with the meaning and significance of the term crisis within sociology. It is argued that crises cannot be regarded as normal or as society itself, because this is how crises are trivialized. Instead, it is advocated that sociology should return to its role and function as science of crisis and use a concept of crisis that refers only to phenomena relevant to society as a whole, and that applies only to critical, potentially existential aberrations from normality.

References

Beck, U. 1986: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Bonß, W. 1995: Vom Risiko. Unsicherheit und Ungewißheit in der Moderne. Hamburg: Hamburger Edition.

Dörre, K. 2015: Über Ulrich Beck hinaus. Öffentliche Soziologie und die Suche nach der besseren Gesellschaft. Blätter für deutsche und internationale Politik, 60. Jg., Heft 7, 89-100.

Gramsci, A. 1991: Gefängnishefte. Band 2, 2. und 3. Heft. Hamburg, Berlin: Argument.

Grunwald, H., Pfister, M. 2007: Krisis! Krisenszenarien, Diagnosen und Diskursstrategien. In H. Grunwald, M. Pfister (Hg.), Krisis! Krisenszenarien, Diagnosen und Diskursstrategien. München: Wilhelm Fink, 7-20.

Habermas, J. 1973a: Was heißt heute Krise? Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus. Merkur, 27. Jg., Heft 300, 345-364.

Habermas, J. 1973b: Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Habermas, J. 1976: Was heißt heute Krise? Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus. In J. Habermas, Zur Rekonstruktion des historischen Materialismus. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 304-328.

Koselleck, R. 1982: Krise. In O. Brunner, W. Conze, R. Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Band 3. Stuttgart: Klett-Cotta, 617-650.

Koselleck, R. 2006: Begriffsgeschichten. Studien zur Semantik und Pragmatik der politischen und sozialen Sprache. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Luhmann, N. 1991a: Am Ende der kritischen Soziologie. Zeitschrift für Soziologie, 20. Jg., Heft 2, 147-152.

Luhmann, N. 1991b: Soziologie des Risikos. Berlin, New York: De Gruyter.

Merkel, W. 2015: Schluss: Ist die Krise der Demokratie eine Erfindung? In W. Merkel (Hg.), Demokratie und Krise. Zum schwierigen Verhältnis von Theorie und Empirie. Wiesbaden: Springer VS, 473-498.

Nassehi, A. 2012: Der Ausnahmezustand als Normalfall. Modernität als Krise. Kursbuch 170, 34-49.

Nünning, A. 2013: Krise als Erzählung und Metapher. Literaturwissenschaftliche Bausteine für eine Metaphorologie und Narratologie von Krisen. In C. Meyer, K. Patzel-Mattern, G.J. Schenk (Hg.), Krisengeschichte(n). »Krise« als Leitbegriff und Erzählmuster in kulturwissenschaftlicher Perspektive. Stuttgart: Franz Steiner, 117-144.

Offe, C. 1973: »Krisen des Krisenmanagement«: Elemente einer politischen Krisentheorie. In M. Jänicke (Hg.), Herrschaft und Krise. Beiträge zur politikwissenschaftlichen Krisenforschung. Opladen: Westdeutscher Verlag, 197-223.

Offe, C. 2006: Strukturprobleme des kapitalistischen Staates. Aufsätze zur politischen Soziologie. Veränderte Neuausgabe herausgegeben und eingeleitet von J. Borchert und S. Lessenich. Mit einem Vor- und Nachwort von C. Offe. Frankfurt am Main, New York: Campus.

Preunkert, J. 2011: Die Krise in der Soziologie. SOZIOLOGIE, 40. Jg., Heft 4, 432-442.

Prisching, M. 1986: Krisen. Eine soziologische Untersuchung. Wien, Köln, Graz: Böhlau.

Reckwitz, A. 2018: Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne. 5. Auflage. Berlin: Suhrkamp.

Reckwitz, A. 2020: Verblendet vom Augenblick. DIE ZEIT, Nr. 25, 10. Juni 2020, 45.

Reichertz, J. 2020: DGS-Blog: Corona und die Krise der sozialwissenschaftlichen Forschung. SOZIOLOGIE, 49. Jg., Heft 3, 336-339.

Repplinger, R. 1999: August Comte und die Entstehung der Soziologie aus dem Geist der Krise. Frankfurt am Main, New York: Campus.

Ricœur, P. 1986: Ist ›die Krise‹ ein spezifisch modernes Phänomen? In K. Michalsky (Hg.), Über die Krise. Castelgandolfo-Gespräche 1985. Stuttgart: Klett-Cora, 38-63.

Schulze, G. 2011: Krisen. Das Alarmdilemma. Frankfurt am Main: S. Fischer.

Steg, J. 2019: Krisen des Kapitalismus. Eine historisch-soziologische Analyse. Frankfurt am Main, New York: Campus.

Steg, J. 2020: Normale Anomalie. Die Coronakrise als Zäsur und Chance. Blätter für deutsche und internationale Politik, 65. Jg., Heft 6, 71-79.

Steil, A. 1993: Krisensemantik. Wissenssoziologische Untersuchungen zu einem Topos moderner Zeiterfahrung. Opladen: Leske und Budrich.

Downloads

Published

2020-10-01