Professionelle und öffentliche Soziologie

Ein soziologiegeschichtlicher Beitrag zur Professionalisierung der Disziplin in Deutschland

Autor/innen

  • Michael Reif

Schlagworte:

Soziologiegeschichte, Public Sociology, Debatte, Professionalisierung, Öffentliche Soziologie

Abstract

Die Entstehung der Soziologie in Deutschland am Anfang des 20. Jahrhunderts wird in diesem soziologiegeschichtlichen Beitrag mit Bezug zur aktuellen Debatte um public sociology beleuchtet. Es wird die These vertreten, dass führende Soziologen gegen öffentliche und für professionelle Soziologie argumentiert haben, um Legitimation im wissenschaftlichen Feld zu generieren. Dabei bezogen sie sich auf das Postulat der Werturteilsfreiheit und das Konzept der Einzelwissenschaft, um die Grenzen der Soziologie zu markieren und um politischen Erwartungen an die Soziologie zu widersprechen. Letztere ergaben sich aus der politischen Unterstützung bei der universitären Etablierung. Carl Heinrich Becker forderte 1919 die Einrichtung soziologischer Lehrstühle. Als öffentliche Soziologie sollte sie zur Lösung der Krise Deutschlands beitragen. Diese Forderung am Beginn der Weimarer Zeit löste eine Debatte aus, die im Mittelpunkt der Ausführungen steht. Die Soziologen Leopold von Wiese und Ferdinand Tönnies widersprachen den politischen Erwartungen sowie dem Sozialismusvorwurf und der Aberkennung der Wissenschaftlichkeit der Soziologie durch den Wirtschaftshistoriker Georg von Below. Die Debatte drehte sich um die Frage der Anerkennung der Soziologie als eigenständiger Wissenschaft, auf die die Soziologen mit einer Strategie disziplinärer Professionalisierung reagierten und sich von der Tradition öffentlicher Soziologie abgrenzten.

 

This article addresses the development of sociology in Germany at the beginning of the twentieth century in light of the current debate on public sociology. It postulates that leading sociologists argued against public and for professional sociology to gain legitimacy in the scientific field. Using the concept of value neutrality and the concept of specialized science they drew boundaries around sociology and contradict political expectations connected with political support for its academic institutionalization. In 1919, Carl Heinrich Becker demanded the establishment of chairs for sociology. This promotion marked the beginning of a debate among Becker, sociologists Leopold von Wiese and Ferdinand Tönnies as well as historian Georg von Below which is analyzed in detail.

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Veröffentlicht

2016-01-01