Solutionismus, Transparenz oder kollektiver Narzissmus?
Der „Geist“ des digitalen Kapitalismus in the making
Keywords:
Digitale TransformationAbstract
Luc Boltanskis und Ève Chiapellos Aufnahme des Gedankens von Sombart und Weber, dass jede Phase des Kapitalismus von einem spezifischen ‚Geist‘ getragen ist, lässt sich möglicherweise auch für eine Kultursoziologie des „digitalen Kapitalismus“ fruchtbar machen. Seine technologischen Neuerungen wälzen Organisationen um, rütteln an menschlichen Akteurspositionen und verlangen neue Rechtfertigungen. Als Bezugspunkt hierfür haben Oliver Nachtwey und Timo Seidl (2017) den „Solutionismus“ identifiziert, den Evgeny Morozov den Eliten der digitalen Wirtschaft (vorzugsweise im Silicon Valley) zuschreibt. Mit ihren Unternehmensideen beanspruchten diese Eliten zugleich die Wirtschaft disruptiv umzuwälzen und Menschheitsprobleme zu lösen. Nachtwey und Seidl verfolgen die „Polis der Solution“ in explorativen Inhaltsanalysen, die jedoch einige Schwächen aufweisen: Sie schließen von bloßen Selbstbeschreibungen auf eine gelebte Kultur; der Kernbegriff Solution‘ ist ad hoc einer populären Kritik entnommen; Alternativen wie etwa die sharing economy oder neue Leistungs(messungs)gerechtigkeit werden nicht geprüft. Wir schlagen eine alternative Analyse des digitalen Kapitalismus als kultureller Praxis vor. Prägend erscheinen uns hier vor allem Verschiebungen in der gelebten Ethik: Neben neuer Reichtumskonzentration verändern vor allem die massenhafte Verfügbarkeit und zentralisierte Nutzung von Daten Handlungsnormen und schaffen Rechtfertigungsbedarf. Diverse Beteiligte müssen zu akzeptieren lernen, dass sie permanent beobachtet, Kennzahlen folgend behandelt und als profitable Datenquelle genutzt werden. Alles dies lässt sich nicht nur durch technische Lösungsversprechen rechtfertigen, sondern auch durch Appelle zu Datenteilung bzw. Transparenz oder die Ansprache von Selbstwirksamkeit – die im Medium der Daten feinkörnig wie nie zuvor angeregt wird. Anhand von Laborprojekten an der HAW Hamburg können diese möglichen Deutungsangebote konkret untersucht werden. Die Analyse soll erste Aufschlüsse darüber geben, welche Prinzipien die Akzeptanzgrenzen im digitalen Kapitalismus verschieben, ihm Motivationsquellen erschließen und ihn insgesamt als gelebte Kultur einrichten könnten.
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